Über 30 Jahre lang hat die CVP Nationalrätin Lucrezia Meier-Schatz die Familienpolitik in der Schweiz geprägt oder mitgeprägt. Nun tritt sie als Nationalrätin und als Geschäftsführerin von Pro Familia zurück. Was hinterlässt sie? Welche Aufgaben warten auf ihre Nachfolger/innen? Das grosse Interview mit der profiliertesten Familienpolitikerin der letzten zwei Dekaden.
SSF: Frau Meier-Schatz, wenn Sie auf Ihre Zeit als Familienpolitikerin zurückblicken, welcher Erfolg freut Sie am meisten?
Lucrezia Meier-Schatz: Da gibt es verschiedene. Ich arbeitete bereits 1978 – 1981 in einer Expertenkommission des Bundes mit, die es ermöglichte den ersten Familienbericht zu erstellen. 1994 konnte ich als Geschäftsführerin von Pro Familia im Auftrag des Bundesrates das Jahr der Familie in der Schweiz organisieren. Dieses bildete dann den Grundstein zur Gründung der Eidgenössischen Kommission für die Familie (EKFF). Sodann stieg ich in die aktive Politik ein. Damit konnte die Familienpolitik auf das nationale Parkett gebracht und zum Beispiel das alte Anliegen „ein Kind – eine Zulage“ und ein Mutterschaftsurlaub realisiert werden.
Wer wird im Parlament in Ihre grossen Fusstapfen treten?
Ich denke an verschiedene Personen, innerhalb der Partei wird Barbara Schmid-Federer die Familienpolitik aktiv mitgestalten. Wichtiger für Pro Familia ist aber, dass einerseits seit dem Wahlsonntag vom 18. Oktober sowohl unseren Pro Familia Präsidenten Laurent Wehrli als auch unsere wiedergewählte Vizepräsidentin Valérie Piller-Carrard im Nationalrat sitzen. Andererseits haben wir, Jacqueline Fehr und ich, vor einigen Jahren die Parlamentarische Gruppe Familienpolitik ins Leben gerufen und nun das Co-Präsidium in jüngere Hände gelegt, die Vizepräsidentin von Pro Familia, Valérie Piller Carrard und Barbara Schmid-Federer (CVP) sind nun in der Verantwortung. Ich gehe davon aus, dass die beiden Persönlichkeiten – gemeinsam mit unserem Präsidenten und weiteren National- und Ständeräten – die Familienpolitik im Parlament vorantreiben werden.
Wird auch in der SP jemand die Rolle von Jacqueline Fehr übernehmen?
Die Vizepräsidentin von Pro Familia, Nationalrätin Valérie Piller Carrard, gehört der SP an.
Sie treten auch als Geschäftsführerin von Pro Familia Schweiz zurück. Diese Organisation scheint in der Schweiz das immer noch fehlende Bundesamt für die Familie zu ersetzen. Gibt es jetzt noch einen direkten Link von Pro Familia ins Bundeshaus.
Der Link ist mit dem Pro Familia Präsidenten Laurent Wehrli und unserer Pro Familia Vizepräsidentin Valérie Piller-Carrard nach wie vor gegeben. Auch der zukünftige Direktor von Pro Familia, Philippe Gnaegi, ist gut vernetzt mit dem Parlament und wird die Lobbyarbeit fortsetzen.
Wird es einmal ein Bundesamt für die Familie geben?
Es gab früher eine Sektion für Familienpolitik. Diese wurde durch ein Geschäftsfeld Familie, Generationen und Gesellschaft (FGG) ersetzt. Leider ist nicht damit zu rechnen, dass diese Institution in ein Bundesamt für Generationenfragen überführt wird.
Liegt das an der mangelnden Bedeutung der Familie, die der Bund ihr gibt?
Seit den 80er Jahren wiesen wir immer wieder darauf hin, dass es ein Bundesamt für Familienfragen braucht. Denn die Familie ist die Kernzelle unserer Gesellschaft und staatstragendes Element zugleich. Selbstverständlich sind in unserem föderalen Staat die Aufgaben unterschiedlich verteilt, doch wir stellen immer mehr fest, dass Familien, je nach Wohnort keine Gleichbehandlung mit Familien in anderen Kantonen erfahren. Diese unterschiedlichen Ausgangslagen erfordern eine nationale Sicht, denn nur so kann eine kohärente Familienpolitik, die allen Familien losgelöst vom Wohnort gerecht wird, entstehen. Der Bund hat in den letzten Jahren verschiedene Impulse gegeben, so auch der 2. Familienbericht. Er ist auf Grund meines Vorstosses nun mit der Verfassung des 3. Familienberichtes beschäftigt. Diese Berichte zeigen die Spielräume auf. Der Bund hat auch im Wissen um die Familienarmut eine nationale Strategie zur Armutsbekämpfung lanciert. Das sind wertvolle Impulse, die auch zeigen, dass er die Chancen nutzt, um eigene Akzente zu setzen. Gleiches gilt z.B. beim Thema Jugend und Medien. Dennoch wissen wir, dass ein Bundesamt für Familienfragen mehr machen würde und vor allem einen wichtigen Beitrag zur Wahrnehmung der Rolle der Familien für unsere Gesellschaft leisten würde.
Welche gesellschaftlichen Kräfte werden nach Ihnen die Familienpolitik in der Schweiz prägen? Es stehen ja grosse Veränderungen an. Stichwort „Ehe für alle“.
Man muss in dieser Diskussion die Paarebene von der Ebene der Familie unterscheiden. Das gilt nota bene auch für die Diskussion um die Modernisierung des Familienrechtes. Pro Familia hat diese Unterscheidung stets gemacht und konnte somit immer einen klaren Kurs verfolgen. Wir vertreten die Interessen jener Menschen, die eine langfristige und nachhaltige Verantwortung für eine andere Generation übernehmen. Diese Verantwortung wird in aller Regel von Familien erbracht, auch von gleichgeschlechtlich orientierten Menschen, die Kinder haben. Diese Realität dürfen wir nicht ignorieren, denn für uns steht grundsätzlich die Gleichstellung aller Familien im Vordergrund, losgelöst von ihrer Form. Wir vermeiden damit unnötige Diskussionen innerhalb des Dachverbandes, weil auch wir die Meinungspluralität respektieren. Für uns gilt: Familien dürfen nicht diskriminiert werden, weder im Steuerrecht, noch im Sozialversicherungsrecht oder im Erbrecht, um einige Beispiele zu nennen. Denn sie nehmen alle die gleichen Aufgaben wahr: Erziehungs-, Betreuungs- und Begleitaufgaben, und das ist für uns zentral. Ob Kinder nun bei verheirateten oder nicht verheirateten Eltern oder in einer Fortsetzungsfamilie aufwachsen, das Gesetz darf sie nicht gegeneinander ausspielen bzw. die einen schlechter als die andern stellen.
Sie möchten somit die Sonderstellung der traditionellen Ehe und Familie nicht aufrechterhalten?
Diese von Ihnen angesprochene Sonderstellung der sog. traditionellen Ehe und Famile hat für diese Familien bekanntlich nicht nur Vorteile, ich erinnere ans Steuerrecht oder ans Sozialversicherungsrecht. Wir möchten vor allem eines verhindern und das ist eine mittel- und langfristige Schlechterstellung von Einverdienerfamilien. Sie sprechen in diesem Zusammenhang von „konservativen Familien“ – mit diesem Begriff verbinde ich primär eine Wertehaltung die sowohl von Einverdiener- als auch von Zweiverdienerfamilien eingenommen werden kann. Wir plädieren für die Wahlfreiheit, jedes Paar soll für sich entscheiden können, wie es die inner- und ausserhäusliche Arbeit aufteilt. Dieser Grundsatz hat wie ein Janusgesicht zwei Seiten: in einer liberalen Gesellschaft respektiere ich diese freie Wahl und überlasse den Betroffenen die Verantwortung für ihr Lebensmodell, das ist die eine Seite. Die andere erfordert einen Ausgleich der geleisteten unschätzbaren und gesellschaftlich notwendigen Arbeit und somit keine Schlechterstellung auch nicht in späteren Lebensphasen. Konsequent durchdacht führt dieser Grundsatz zur Anerkennung der geleisteten Familienarbeit. Das Prinzip der Wahlfreiheit hat jedoch einen Preis. Man kann nicht von der Gesellschaft erwarten, dass sie alle Konsequenzen meiner freien Wahl ausgleicht, dennoch soll langfristig die Wahl ihr nicht zum Nachteil gereichen. Keine Familie soll vom Gesetz genötigt werden, als Zweiverdienerfamilie zu leben, auch nicht mit zum Beispiel mit zwei Mal 60 Prozent.
Sie setzen sich für die Beseitigung der Heiratsstrafe bei den Steuern ein, müsste nicht auch die Heiratsstrafe bei der AHV beseitigt werden?
Das sind zwei unterschiedliche Themen. Die CVP verlangte mit ihrer Initiative die steuerliche Gleichstellung von verheirateten und unverheirateten Paaren. Diese ist in den meisten Kantonen bereits realisiert, nicht aber bei der direkten Bundessteuer. Hier muss aber der Verfassungsauftrag von 1984 endlich umgesetzt werden. Gleichzeitig wird in der Initiative eine Gleichstellung im Sozialversicherungsbereich verlangt. Diese hat aber eine Krux, denn eigentlich sind hier die verheirateten Paare besser gestellt als die Konkubinatspaare. Das leuchtet auf den ersten Blick nicht ein, wenn ich nur die Rentenregelung anschaue. Die Benachteiligung bei der AHV-Rente ist auf den ersten Blick störend. Man vergisst aber leicht, dass Ehepaare im Gegensatz zu den Konkubinatspaaren eine Witwen bzw. Witwerrente erhalten. Wenn der 40-jährige Partner eines Konkubinatspaars stirbt, hat der andere Partner keinen Rentenschutz. Die Gleichstellung muss während der ganzen Lebensphase betrachtet werden. Es kann auch nicht angehen, die bestehende Rente für Verwitwete abzuschaffen, wie es Bundesrat Berset in die Diskussion brachte. Dieser Vorschlag wäre auch nicht mehrheitsfähig. Man muss genau hinsehen, wo man Gleichstellung einfordert. Wenn man eine Gleichstellung haben möchte, dann wäre die logische Konsequenz entweder die Abschaffung der Witwenrente oder deren Einführung auch für Konkubinatspaare. Sie können nicht nur einen Teilaspekt betrachten, sie sind gezwungen, das Ganze anzuschauen.
Ein Problem haben aber Menschen im Pensionsalter, wenn sie wieder heiraten.
Ja, sie haben dann bestimmte Privilegien nicht mehr, die sie zuvor hatten. Aber sie erhalten beim Tod des Partners eine Witwenrente aus der AHV und der dritten Säule. Allerdings erst nach einer bestimmten Frist.
Die CVP hat ihre Volksinitiative für die Abschaffung der Ehestrafe auch mit einem Bekenntnis zur traditionellen Ehe verbunden. Könnte dieser Passus die Initiative in der Abstimmung gefährden?
Das wurde von bestimmten Kreisen zwar kritisiert, aber es handelt sich um die heute allgemein anerkannte Formulierung in der Europäischen Menschenrechtskonvention, im Europarat und in unserer Gesetzgebung. Das Thema wurde emporstilisiert. Das Volk wird darüber entscheiden. Wir werden dann sehen, ob es wirklich ein Stolperstein ist.
Sie haben darauf hingewiesen, dass die vorgeschlagenen Reformen Konsequenzen beinhalten, die noch nicht bedacht worden sind. Können Sie das etwas ausführen?
Es gibt hier zwei Ebenen: die Paarebene und die Familienebene. Die Modernisierung des Familienrechts, die vom Bundesamt für Justiz angestossen worden ist, muss sehr behutsam bedacht und auch auf ihre Folgen analysiert werden, zum Beispiel für das Erbschaftsrecht und die Sozialversicherungen. Ich habe sie in einem Vortrag an der Universität Fribourg ausführlich dargelegt.
Eine Revision des Familienrechts, wie sie auch der Bundesrat vorschlägt, verändert vieles. Entspricht sie wirklich einem breiten Bedürfnis, oder geht es mehr um die gesellschaftliche Anerkennung von bisherigen Randgruppen?
Die Revision des Familienrechtes beinhaltet ganz unterschiedliche Themen, von der „Ehe für alle“ bis hin zur Reform des Erbrechtes. Einzelne Punkte werden mit Sicherheit im Parlament aufgegriffen, so die Revision des Erbrechtes und auch zielführend aktualisiert, andere Themen wie die Anerkennung des Instituts Ehe für gleichgeschlechtliche Paare könnten einen schwereren Stand haben, da bereits das Partnerschaftsgesetz einen hohen Beitrag zu Abschaffung der Diskriminierungen leistet.
Ein anderes Thema: Sie haben sich in den letzten Jahren stark für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf eingesetzt. Wie beurteilen Sie den Erfolg Ihrer Bemühungen?
Die erste Kampagne haben wir 1994 gestartet. Im Jahr 2000 machten wir eine grosse Umfrage bei 4000 Unternehmen. Aufgrund der Ergebnisse entwickelte der Arbeitgeberverband Leitsätze für Unternehmen, und wir erarbeiteten einen Leitfaden für Arbeitnehmer. Wenn ich 20 Jahre zurückblicke, kann ich feststellen, dass das Thema mittlerweile in der Öffentlichkeit angekommen ist. Alle reden von Vereinbarkeit. Viele sprangen auf das Thema auf, es hat eine Breitenwirkung erlangt. Wir haben etliches angestossen, und das ist ein Verdienst von Pro Familia. Wir haben ja auch Ende der 80er Jahre eine Kinderkostenanalyse angeregt, die vom damaligen Ökonomieprofessor und späteren Bundesrat Joseph Deiss erstellt wurde. 1992 ging ich erstmals mit der Forderung „Ein Kind – eine Zulage“ vor die Medien. Es brauchte dann fast 20 Jahre, bis sie auch im Parlament durchkam. Aber wir waren die Agendasetter. Das gleiche gilt bei der Vereinbarkeit. Hier tut sich einiges, aber immer noch zu wenig. Daher haben wir den Family Score Award lanciert und organisieren dieses Jahr am 25. November den zweiten nationalen Vereinbarkeitsgipfel. Den ersten haben wir 2014 mit Bundesrat Johann Schneider-Ammann und dem Präsidenten des Arbeitgeberverbandes, Valentin Vogt, durchgeführt.
Es scheint aber vielerorts noch zu harzen, zum Beispiel wenn auch Gemeinden Betreuungsangebote anbieten sollen.
Im Vergleich zum Ausland haben wir vieles aufzuholen. Aber es hat sich auch vieles getan, zum Beispiel mit dem Impulsprogramm des Bundes, das von unserer damaligen Pro Familia Vize-Präsidentin Jacqueline Fehr lanciert wurde. Rund 50'000 Plätze wurden neu geschaffen, aber es gibt noch viel zu tun. Nun schlägt der Bundesrat vor, mit einer finanziellen Unterstützung von 100 Mio CHF die Belastung der Eltern zu senken. Dieses Geld sollte zu einer Senkung der Tarife führen. Damit gehen wir in die richtige Richtung, denn es gilt der Grundsatz „Erwerbsarbeit soll sich lohnen!“. Es darf nicht sein, dass die hohen Betreuungskosten dazu führen, dass am Ende des Monates kaum mehr Geld der Familie zur Verfügung steht, als wenn sie gänzlich auf eine Erwerbsarbeit verzichtet hätte.
Das hilft aber Eltern nicht, die ein traditionelles Familienmodell leben und die Erziehungsarbeit selbst übernehmen.
Ich kenne viele Eltern, die ein traditionelles Familienverständnis haben und wo doch beide erwerbstätig sind. Familien, die auf eine zweite Erwerbsarbeit bewusst verzichten, um sich exklusiv der Erziehungs- und Betreuung ihrer Kinder und vielleicht noch eigener Eltern anzunehmen, erfahren in aller Regel eine andere Art von Unterstützung. Ich nenne hier nur wenige Bereiche: die Prämienverbilligungen, die einer Mehrheit von Einverdiener-Familien zugutekommt, die tieferen Steuersätze und der Einverdiener-Abzug, die Privilegierung in der AHV, da die nicht erwerbstätige Person keine monetären Leistungen erbringen muss, dennoch aber im Rentenalter eine Rente bekommt, usw. Diese Massnahmen und weitere sind Ausdruck einer Anerkennung der erbrachten Leistungen der Familien. Selbstverständlich können wir verlangen, dass Familien eine noch höhere Wertschätzung entgegenbracht wird…! Die unschätzbaren Leistungen von Familien und deren Anerkennung bleiben ein wichtiges und zentrales Thema von Pro Familia Schweiz.
Welche Erfolge wünschen sie den Familienpolitiker/innen im Parlament in den kommenden Jahren?
Ich wünsche mir ein Parlament, das sich bewusst ist, dass es sich mit Familienpolitik auch mit der Zukunft auseinandersetzt. Einige Themen drängen sich auf: so das Thema der Familienzeit, des Elternurlaubs und somit der Vereinbarkeit, das Thema der finanziellen Sicherheit der Familie und der Bekämpfung der Familienarmut, oder das Thema der besseren Absicherung im Sozialversicherungsrecht von Familienangehörigen. Ich machte eine Analyse der Wahlplattformen, bei der ich feststellen musste, dass die Bereitschaft, in der Familienpolitik etwas zu bewegen, wesentlich geringer ist als vor vier oder acht Jahren. Meinen Nachfolgern und Nachfolgerinnen wünsche ich viel Punch und Power, diese Themen auf die Traktandenliste zu bringen.
Werden Sie sich nun ganz aus der Familienpolitik zurückziehen? Werden Sie andere Engagements wahrnehmen?
Ich habe früher im Bereich Ethik und Wirtschaft geforscht. Ich werde ein Gremium präsidieren, das sich mit dem Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft auseinandersetzt. Dazu kommen einige weitere Mandate in der Privatwirtschaft. Familienpolitik wird mich noch am Rande begleiten. Gesellschaftspolitische und wissenschaftliche Analysen werden weiterhin eine wichtige Bedeutung in meinen Aktivitäten einnehmen. Aber zuerst möchte ich jetzt erst einmal ankommen. Ich hatte in den vergangenen 20 Jahren für Vieles zu wenig Zeit.