Der individuelle Wert der Familie ist unbestritten, der gesellschaftliche Wert hingegen sehr umstritten: So beschäftigt sich die Schweiz intensiv mit ihrer Familienpolitik und ringt immer wieder um ihre Bedeutung, aber auch mit ihren Kosten.
(SSF/PD/im.) Am Caritas-Forum 2016 diskutierten am 29. Januar über 200 Fachleute das Thema Familienarmut aus verschiedenen Perspektiven. Dabei wurde deutlich, dass Familien in der Schweiz Armutsrisiken ausgesetzt sind. 223 000 Kinder und Erwachsene sind von Armut betroffen.
Risikogruppe Alleinerziehende
„Moralische Verpflichtungen gegenüber der Familien führen zu Höchstleistungen im konkreten Alltag“, führte Anna Hausherr aus, Leiterin des Bereichs Familien- und Sozialpolitik beim Schweizerischen Verband für Alleinerziehende Mütter und Väter. In ihrem Referat zeigte sie auf, was Familien täglich und über viele Jahre hinweg leisten. Dabei wies sie ausdrücklich auf die hohen gesellschaftlichen Erwartungen gegenüber Familien hin.
Mittelschicht- und Normalfamilie werden gefördert
Diese Erwartungen stehen jedoch in keinem Verhältnis zur Unterstützung, welche Familien erhalten, stellte Karin Jurczyk, Leiterin der Abteilung Familie und Familienpolitik am Deutschen Jugendinstitut in München, fest. Obgleich der staatliche Auftrag der Familienpolitik beinhaltet, „die“ Familie in ihrer Leistungsfähigkeit zu unterstützen, folgt sie eher einem ökonomischen Imperativ mit selektiven Wirkungen: Zum einen werden vor allem gut qualifizierte Mittelschicht-Familien gefördert, zum andern wird dabei trotz aller gelebten Vielfalt die Förderung an einem Bild der „Normalfamilie“ ausgerichtet. Vor allem aber erhöht sich dadurch das Armutsrisiko ohnehin gefährdeter Familien.
Monika Pfaffinger, Vizepräsidentin der Eidgenössischen Koordinationskommission für Familienfragen, vertiefte das Thema der Familienarmut weiter. So zeigte sie in ihrem Referat auf, dass Armut in der Schweiz ein weibliches Gesicht hat und legte dafür grundlegende strukturelle Gründe dar. Insbesondere die asymmetrische Rollenverteilung von Mann und Frau, die von Gesetzen und Institutionen bevorzugt wird, beinhalte ein Armutsrisiko für Familien.
Wirksame Instrumente von Staat und Wirtschaft
Wie man mit wirksamen politischen Instrumenten Familienarmut nachweislich reduzieren kann, zeigte Esther Alder, Stadtpräsidentin von Genf, in ihrem Referat auf. Dazu zählen Ergänzungsleistungen für Familien auf kantonaler Ebene sowie in der Stadt Genf Zulagen für Schulkosten, kostenlose Freizeitaktivitäten für Kinder und Sprachkurse für fremdsprachige Eltern. Roland Müller, Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, wies auf die Potenziale, aber auch die Grenzen der Wirtschaft als Akteur der Familienpolitik hin: „Arbeitszeitmodelle und Unternehmensmentalität sind Aspekte, welche die Arbeitgeber direkt beeinflussen können.“
Unter der Leitung der Publizistin Nicole Althaus, Mitglied der Chefredaktion der NZZ am Sonntag, vertieften die Referentinnen und Referenten in zwei Podiumsgesprächen ihre Gedanken und Thesen.