Die TARZAN-Studie der Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm, Leiterin des Forschungsinstituts SWISS EDUCATION, erschüttert gängige Vorstellungen und Ideale über die Rolle der „neuen Väter“. Die Studie spricht von Mythen, die zu entkräften seien, beleuchtet das Engagement der Väter gesamtheitlich und kommt zu Schlussfolgerungen, welche die künftige politische und gesellschaftliche Diskussion bestimmen könnten. Wir dokumentieren die Zusammenfassung der Studienergebnisse.
Väter – ein schwieriges Thema
Väter waren lange Jahre eine vergessene Klientel, weil vor allem die Mutter und ihre Beziehung zum Kind im Zentrum stand und diese als die einzig richtige galt. Heute sind Väter zu einem zwar viel diskutierten Thema geworden. Der Blick auf sie ist aber nach wie vor ein defizitärer.
Seit der Frauenbewegung der 1970er und 1980er werden Väter als defizitäre Kategorie wahrgenommen. Der Bedarf nach weiblichen Arbeitskräften und die gesellschaftlichen Entwicklungen haben jedoch in den letzten zwanzig Jahren Forderungen nach neuen Männern respektive neuen Vätern entstehen lassen, welche zu Hause engagiert anpacken. Allerdings steht eine verbindliche Definition, wer denn die «neuen» Väter sind, bis heute aus.
Besonders auffallend an der aktuellen Diskussion ist, wie engagierte Vaterschaft am traditionellen Bild der Allzeit verfügbaren Mutter gemessen wird und wie sehr andere Leistungen ausgeblendet werden. Deshalb ist die Messlatte dessen, was einen guten Vater ausmacht, ausgesprochen hoch. Trotz solch ehrgeiziger Ansprüche gibt es engagierte Väter und zwar in einer beachtlichen Anzahl.
Am väterlichen Verhalten gibt es jedoch viel Kritik: erstens, dass sich Väter zu Hause zu wenig einbringen und zweitens zu viel im Beruf arbeiten; drittens, dass Mütter nach wie vor die innerfamiliäre Hauptverantwortung tragen. Der erste und zweite Kritikpunkt ist auf der Grundlage (traditioneller) empirischer Daten berechtigt, der dritte Kritikpunkt muss differenzierter betrachtet werden.
Vätermythen
Die Diskussion über Väter ist ideologisch aufgeheizt. Dies zeigt sich unter anderem in verschiedenen Mythen, die einen relativ stabilen Bestand haben – und zwar sowohl bei Männern als auch bei Frauen.
Heute sind Väter in den Medien sehr präsent, doch dominieren oft Idealvorstellungen, die mit der realen Alltagswelt wenig kompatibel sind. Weil zudem empirische Ergebnisse von der Öffentlichkeit kaum oder nur selektiv zur Kenntnis genommen werden, öffnet dies Tür und Tor für Mythen.
Mindestens vier Mythen halten sich hartnäckig: (1) Mehr Präsenz ist besser. (2) Die Mutter ist von Natur aus die bessere Erzieherin. (3) Die Motivation der Väter, sich mehr in der Familie zu engagieren, ist entscheidend. (4) Männern gelingt es besser, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen.
Alle diese Mythen sind lediglich Behauptungen. Weder ist ein Mehr an Präsenz der Väter für den Nachwuchs automatisch entwicklungsförderlich, noch sind Frauen von Natur aus besser als Männer dazu bestimmt, Kinder zu versorgen. Auch der Mythos, wonach die Motivation der Väter entscheidend ist für ihr innerfamiliäres Engagement, ist eher ein Wunschgedanke. Gleiches gilt für die vierte Behauptung, wonach es für Männer leichter sei, Kind und Karriere zu vereinbaren. Sie stecken ebenso in einem Dilemma wie ihre Partnerinnen.
Neue Vaterschaftskonzepte
Dass es viele Mythen gibt, hat mit den konzeptionellen Problemen der Väterforschung zu tun. Sie hat die Väter bisher weitgehend auf ihre sichtbaren Fürsorgeleistungen reduziert. Eine Neuorientierung tut Not. Dazu stehen alternative Vaterschaftskonzepte zur Verfügung.
Die vorherrschenden Defizitansätze, die sich fast ausschliesslich auf das mangelnde häusliche Engagement der Väter konzentrieren, haben dazu geführt, dass sie mit grosser Selbstverständlichkeit als ungenügend, manchmal sogar als «faules Geschlecht» bezeichnet werden.
Glücklicherweise stehen nun alternative Vaterschaftskonzepte zur Verfügung, welche die gesamte Variabilität der väterlichen Beiträge beleuchten und sie nicht mehr am Konzept der guten Mutterschaft messen. Gemäss diesen neuen Konzepten können sich Väter in der familiären Fürsorgearbeit engagieren, ohne dabei automatisch (körperliche) Präsenz zum Kind zu markieren.
Am bekanntesten geworden sind die Konzepte von Michel Lamb, Joseph Pleck, John Snarey und von Robert Palkovitz. Zwar unterscheiden sie sich in ihrer inhaltlichen Ausrichtung, doch ist ihnen gemeinsam, dass sie Aufgaben und Leistungen von Vätern viel breiter erfassen.
Die TARZAN-Studie
Die TARZAN-Studie ist ein im Jahr 2015 durchgeführtes Folgeprojekt der FRANZ-Studie («Früher an die Bildung, erfolgreicher in die Zukunft?»), an der 300 Familien und ihre Kinder teilgenommen hatten.
Basierend auf den Daten aus der FRANZ-Studie wurden bei 129 Vätern und 116 Müttern anhand von drei Fragen zusätzliche Daten erhoben: Zum Umfang und den Inhalten ihres gesamten Engagements, zur Gestaltung des Vaterseins im Hinblick auf Familie und Beruf und zu den väterlichen Beiträgen im Hinblick auf die Bildung und Förderung des Kindes.
Das Konzept des familiären Väterengagements von TARZAN beruht auf drei Säulen: indirekten Betreuungsleistungen und auf Aktivitäten der Prozessverantwortung, die nicht zu den täglichen Routinen gehören. Ferner geht unser Vaterschaftskonzept davon aus, dass neben der beruflichen Situation auch das Rollenverständnis die Realisation der Vaterschaft beeinflusst.
Das Engagement der Väter in Beruf und Familie
Das erste Kernanliegen der TARZAN-Studie war eine differenzierte Erfassung des Zeitbudgets der Väter, auf der Basis unseres Vaterschaftskonzepts.
Väter sind während der Woche im Durchschnitt 83.8 Stunden engagiert und am Wochenende während 35.9 Stunden. Die Erwerbsarbeit nimmt dabei durchschnittlich 46.2 Stunden in Anspruch, davon sind 4.5 Stunden Home Office. Die Zeit, welche für die Familie aufgewendet wird, beträgt 12.7 Stunden während der Woche und 9.9 Stunden am Wochenende. Je 4.9 Std. sind es alleine für den Nachwuchs während der Woche und am Wochenende.
Besonders auffallend ist, dass die Verantwortung in den direkten Betreuungsbereichen, ausser Krankenpflege und Arztbesuche, grossenteils mit der Partnerin geteilt wird. Ähnlich sieht es in Bezug auf die indirekten Betreuungsleistungen aus. Grundsätzlich jedoch sind Mütter für deutlich mehr Bereiche allein zuständig. Im Bereich der Prozessverantwortung sind Väter jedoch meist allein verantwortlich. Dies gilt für Reparaturen, für Entsorgungen und Administration. Jeder fünfte Vater macht zudem regelmässig und jeder dritte Vater unregelmässig Überstunden, um der Familie etwas Besonderes zu ermöglichen.
Vor dem Hintergrund dieses Zeitbudgets erstaunt es kaum, dass für Väter Einiges zu kurz kommt: Partnerschaft, persönliche Freizeit, Freundschaften, aber auch mehr Zeit für die Kinder.
Arbeitsteilung, Rollenbilder und Konflikte
Die zweite Forschungsfrage war der Frage gewidmet, wie Väter ihr Vatersein in Abhängigkeit von den Anforderungen in Familie und Beruf realisieren. Es geht somit um Erwerbsmodelle der Paare und Konflikte, welche die Organisation des Familien- und Berufslebens mit sich bringen.
TARZAN-Väter haben mit ihren Partnerinnen sehr unterschiedliche Erwerbsmodellegewählt. Das Vollzeit-Teilzeitmodell überwiegt deutlich (59.8%), während das Teilzeit-Teilzeitmodell und das Vollzeit-Vollzeit-Modell (6.0%) noch wenig verbreitet ist (13.4%). 15.4% der Väter haben Partnerinnen, welche keiner Berufstätigkeit nachgehen. Allerdings: Welches Modell auch immer gewählt wurde, es basiert auf einer gemeinsam getroffenen Entscheidung.
TARZAN-Väter bezeichnen Kinder und Familie als das Wichtigste in ihrem Leben, obwohl nur wenige bereit sind, ihre berufliche Tätigkeit tatsächlich zu reduzieren. Trotzdem hat ein Grossteil moderne Vorstellungen über Männer und Frauen. Doch gerade solche Einstellungsmuster bedingen, dass die Rollenvorstellungen in der Partnerschaft neu ausgehandelt werden müssen und es logischerweise zu Konflikten kommt. TARZAN liefert auch Hinweise auf gewisse Verhaltensweisen eines Teils der Mütter, die auf ein deutliches Kontrollverhalten («Gatekeeping») verweisen. Die Frage, inwiefern sich Väter an der familiären Fürsorge stärker beteiligen, bedarf somit auch einen kritischen Blick auf die möglicherweise blockierende Rolle von Müttern.
Väter und ihr Beitrag für die Bildung und Förderung ihrer Kinder
Die dritte Forschungsfrage betraf den Beitrag, den die Väter zur Bildung und Förderung ihrer Kinder leisten. Dabei wurde das Augenmerk auch auf die Unterschiede zwischen Söhnen und Töchtern gelegt.
Von der Forschung wird immer unterstrichen, dass Väter mit Söhnen anders umgehen als mit Töchtern und mit ihnen auch andere Aktivitäten pflegen.
In Bezug auf das geschlechtsspezifische Väterverhalten zeigen unsere Befunde, dass TARZAN-Väter mit Söhnen tatsächlich anderes tun als mit Töchtern und zwar quantitativ wie qualitativ. Quantitativ, weil Väter auch dann viel mit den Söhnen unternehmen, wenn sie beruflich sehr eingespannt sind. Qualitativ, weil Väter unterschiedliche Aktivitäten bevorzugen. In unserer Studie sind sie jedoch nicht durchwegs geschlechtstypisch, lesen sie doch gerade mit ihren Söhnen mehr als mit den Töchtern, während sie mit diesen häufiger Medien nutzen. Üblicherweise berichtet die Forschung gerade Umgekehrtes. In anderen Bereichen – Sport oder Bewegung – scheinen jedoch geschlechtstypische Verhaltensweisen durch.
Es ist also nicht grundsätzlich so, dass Väter per se das geschlechtsrollenspezifische Verhalten bei ihren Kindern verstärken. Sie haben aber die Tendenz, sich unterschiedlich intensiv mit den Kindern zu beschäftigen. Weshalb dem so ist, lässt sich nur ansatzweise interpretieren. Möglich ist, dass die Söhne fordernder sind als die Töchter, welche grösseres Verständnis für die berufliche Belastung des Vaters zeigen.
Den Vater gibt es ncht nur im Plural: Vätertypen
Auf der Basis der Gesamtdaten aus der FRANZ- und der TARZAN-Studie wurde eine Clusteranalyse als Typologisierung durchgeführt. Sie förderte drei Vätertypen zutage.
Der Vorteil unserer Typologie besteht darin, auf der Basis unseres Vaterschaftskonzepts weitere Aspekte wie indirekte Betreuung, Aktivitäten mit dem Kind oder auch Partnerkonflikte einbeziehen zu können. Dabei liessen sich drei Typen eruieren: (1) «Traditionelle und ambitionierte Väter» (29.3%): Sie lehnen zwar ein egalitäres Rollenverständnis deutlich ab, haben jedoch ein sehr gefühlsbetontes Verhältnis zu den Kindern, spielen und lesen am meisten mit ihnen und gewichten Schulnoten hoch. (2) Egalitäre und begeisterte Väter (38%): Sie befürworten sehr deutlich eine egalitäre Aufteilung von Erwerbs- und Familienarbeit. Besonders intensiv begleiten sie Hausaufgaben und empfinden ihr Vatersein auffallend ausgeprägt als Freude und Bereicherung. (3) Orientierungslose und distanzierte Väter (32.6%): Sie haben ein Rollenverständnis, das gewisse partnerschaftliche Züge aufweist, doch ist ihr Engagement für die Kinder und mit ihnen auf allen Ebenen bescheiden. Sie wirken orientierungslos und distanziert.
Konsequenzen
Das Dossier zeigt theoretisch und empirisch auf, dass Väter ein schwieriges Thema geblieben sind. Deshalb braucht es eine neue, erweiterte Perspektive auf sie.
Im abschliessenden Briefing Paper werden fünf Konsequenzen formuliert. Die erste Konsequenz betrifft den erweiterten Blick auf und die Diskussion über Väter. Dieser muss sich an den sichtbaren und unsichtbaren, den direkten und indirekten Verhaltensbeiträgen orientieren und nicht nur auf das erste Lebensjahr (Stichwort Vaterschaftsurlaub) oder die frühe Kindheit verkürzt werden. Miteinzubeziehen sind ebenso die mittel- und langfristigen Auswirkungen des väterlichen Engagements. Die zweite Konsequenz basiert auf dem Vereinbarkeitsdilemma von Vätern: Nicht nur die viel diskutierten Vereinbarkeitsprobleme der Mütter, sondern auch die der Väter müssen Grundlage für strukturelle Reformen werden. Die dritte Konsequenz wird im Hinblick auf die nach wie vor gängige Mutter-Glorifizierung formuliert. Sie darf nicht weiterhin Ausgangslage für die Bewertung «guter» Vaterschaft sein. Als vierte Konsequenz muss die spezifische und unterschiedliche Bedeutung der Vaterrolle gegenüber derjenigen der Mutter viel stärker herausgehoben werden. Und schliesslich betrifft die fünfte Konsequenz die Väter selbst. Sie sollten ihre Stimme erheben und kundtun, was sie eigentlich möchten und was sie von den Partnerinnen erwarten.
„Lasst die Kinder los!“ – zum neuen Buch von Margrit Stamm