Trotz breit abgestützter Forderungen nach Gleichberechtigung, aus der auch ein egalitäres Verhalten bei Familien- und Erziehungsaufgaben abgeleitet wird, unterscheiden sich die Engagements von Frauen und Männern in Beruf und Familie weiterhin stark. Dabei gibt es unterschiedliche Verläufe. Wie diese aussehen und worauf sie zurückzuführen sind, hat der Lausanner Soziologe René Lewy untersucht. Die Studie ist von der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften publiziert worden.
(SSF/im./SAGW) Bei den Männern stellt Levy zwei Haupttypen fest. 72 Prozent der Männer befolgen einen traditionellen Verlauf mit Ausbildung, Vollzeitbeschäftigung und Pension. 28 Prozent sind während ihrer Berufsarbeit zu einem grossen Teil nicht voll berufstätig und gehen relativ früh in Pension. Familienmänner bleiben selten und atypisch, so Levy.
Bei den Frauen setzt ein Drittel ihre Zeit zum grossen Teil im Beruf ein, verbindet diese aber auch mit Familienarbeit. Ein weiteres Viertel wechselt von anfänglicher Vollzeiterwerbstätigkeit in Teilzeit, sobald das erste Kind geboren ist. 30 Prozent der Frauen arbeiten zuerst Vollzeit, unterbrechen dann die Arbeit nach der Geburt des ersten Kindes und steigen später wieder teilzeitlich in den Beruf ein. Nur ein relativ kleiner Teil von 13 Prozent widmet sich nach anfänglicher Berufstätigkeit später ganz der Familienarbeit und nimmt keine Berufsarbeit mehr auf.
Die Studie spricht nun von einer „Retraditionalisierung im Familienverlauf“. Obwohl viele Paare von einer egalitären Rollenverteilung überzeugt sind und diese auch ausüben wollen, werden sie ihrer Überzeugung nach der Geburt des ersten Kindes untreu. Im Verlauf der Zeit verändern sie nicht nur die Praxis, sondern auch die dahinter stehende Überzeugung. Levy stellt diese Veränderung schon nach einem Jahr nach der Geburt des ersten Kindes fest. Die Partner kommen also zum Schluss, dass eine egalitäre Rollenverteilung, sobald Kinder da sind, gar nicht machbar – und auch nicht erwünscht – sei.
Der Soziologe wollte nun wissen, auf welche Faktoren dies zurückzuführen ist. Er stellte dabei fest, dass in liberalen Sozialstaaten, zu denen er auch die Schweiz zählt, die Verschiebung stärker feststellbar ist als in „sozialdemokratischen Regimen“, beispielsweise den skandinavischen Ländern. Während in liberalen Sozialstaaten die Veränderung dauerhaft bleibt, kommt sie in sozialdemokratischen Ordnungen weniger vor und bildet sich nach der Familienzeit wieder zurück. Der Unterschied zwischen den beiden Typen von Sozialstaaten liegt darin, dass in letzteren der Zugang zu Einrichtungen ausserfamiliärer Kinderbetreuung viel einfacher ist.
Levy erkennt aber auch kulturelle Widerstände. In liberalen Sozialstaaten ist zwar das Bekenntnis zu egalitären Rollen und Rechten der Geschlechter offiziell im Sinne politischer Korrektheit vorhanden, doch ortet er unter einer „kulturellen Hochnebelschicht der politischen Korrektheit“ im Sinne einer „bedingungslosen Akzeptanz der Geschlechtergleichheit“ auch einen emotionalen Teil, der auf der traditionellen Geschlechterordnung beharrt. Dieser lasse sich aber wissenschaftlich schwer erfassen. Der Soziologe stellt auch fest, dass sich dieses Beharren auch in den Berufsfeldern feststellen lässt, die sich nach wie vor in eher typische Frauen- oder Männerberufe einteilen lassen. Also Frauen eher in den sozialen Berufen und Männer in den technischen und Ingenieurberufen. Daran habe sich in den letzten 25 Jahr kaum etwas verändert.
Aufgrund des Ländervergleichs mit unterschiedlichen Strukturen der ausserfamiliären Kinderbetreuung kommt Levy zum Schluss, dass Veränderungen der Rollenaufteilung eher durch die vorhandenen Einrichtungen und Institutionen beeinflusst werden als durch die individuellen Wünsche (Präferenzen) der Paare. Politisch bewirkte institutionelle Veränderungen wirkten sich auch dauerhaft auf die Mentalitäten von Frauen und Männern im Blick auf ihre Rollen aus. Levy weist dabei darauf hin, dass die heutige Rollenaufteilung auch starke Auswirkung auf die finanzielle Absicherung im Alter hat, weil diese stark auf der Erwerbstätigkeit fusst. So beziehen zum Beispiel 81,7 Prozent der Männer eine BVG-Rente, aber nur 56,8 Prozent der Frauen.
Quelle: René Levy: „Wie sich Paare beim Elternwerden retraditionalisieren, und das gegen ihre eigenen Ideale“. Hg. Schweizerische Akademie der Sozialwissenschaften. Bern 2016