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Die Sache mit den Kinderstrafen


Die Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm versteht es, immer wieder auf Einseitigkeiten in Pädagogik, Familie und Gesellschaft aufmerksam zu machen. Nun hat sie sich dem heiklen Thema Körper- und anderer Strafen für Kinder angenommen.

(SSF/im.) Die Ab­leh­nung jeg­li­cher Kör­per­stra­fen ist in der west­li­chen Päd­ago­gik ein­hel­lig und laut. Auch wenn der ge­le­gent­li­che Klaps auf den Hin­tern den quen­geln­den Klein­kinds viel häu­fi­ger sein dürf­te, als sta­tis­tisch aus­ge­wie­sen. Rund 70% der El­tern prak­ti­zie­ren ihn laut Ein­schät­zung von Stamm. Trotz dem UNO-Kin­der­rechts­aus­schuss, der von der Schweiz end­lich ein Ohr­fei­gen­ver­bot ver­langt, trotz dem „No Hit­ting Day“ und trotz Vor­stös­sen im Par­la­ment, Kör­per­stra­fen gegen Kin­der unter Stra­fe zu stel­len.

Mar­grit Stamm weist jetzt dar­auf hin, dass im Schat­ten der gros­sen Ein­heits­front gegen Kör­per­stra­fen vie­les ge­schieht, von dem wir noch gar nicht wis­sen, wie es die Ent­wick­lung der Kin­der be­ein­flusst. (Fast) alle ge­nui­nen Schwei­zer sind sich einig, dass Ge­walt in der Er­zie­hung nichts zu su­chen hat bzw. kon­tra­pro­duk­tiv ist. Den­noch: wo be­ginnt denn phy­si­sche oder psy­chi­sche Ge­walt? Ge­hört nicht auch der Lie­bes­ent­zug dazu? Laut Stamm ist er nicht nur die wirk­sams­te und schärfs­te Form der Stra­fe, „son­dern er hat auch in den letz­ten Jah­ren mar­kant zu­ge­nom­men“.

Mar­grit Stamm nennt dazu auch diese „Stra­te­gi­en“: Des­in­ter­es­se am Kind si­gna­li­sie­ren, ab­wer­ten­de Be­mer­kun­gen ma­chen, seine Prä­senz igno­rie­ren, Schuld­zu­wei­sun­gen ma­chen, etc. Dazu ge­hö­ren laut Stamm auch neue­re For­men des Lie­bes­ent­zugs, zum Bei­spiel wenn das Kind abends nur noch vom Ba­by­sit­ter ins Bett ge­bracht wird. Oder wenn kran­ke Kin­der al­lein zu­hau­se zu­rück­ge­las­sen wer­den. Das Po­ten­zi­al sol­chen Lie­bes­ent­zugs wird nach Er­kennt­nis­sen der Er­zie­hungs­wis­sen­schaf­te­rin krass un­ter­schätzt.

Nebst der Dis­kre­di­tie­rung der Kör­per­stra­fe ist ein wei­te­rer Fak­tor ent­schei­dend für die Stra­te­gi­en des Lie­bes­ent­zugs. Näm­lich das Be­mü­hen, Kin­der part­ner­schaft­lich zu er­zie­hen, nach­dem der Be­griff „el­ter­li­che Au­to­ri­tät“ in Miss­kre­dit ge­ra­ten ist. Die El­tern wol­len Part­ner des Kin­des sein und kom­men doch nicht darum herum, sich ge­le­gent­lich durch­set­zen zu müs­sen.

So wich­tig die Dis­kus­si­on um die Kör­per­stra­fen auch ist, so Stamm, „wischt sie die Kos­ten des Lie­bes­ent­zugs viel zu sehr weg“. Sie ver­drängt auch die Tat­sa­che, dass Kin­der in ver­schie­dens­ten Ent­wick­lungs­pha­sen und Si­tua­tio­nen äus­serst her­aus­for­dernd sein kön­nen. Stamm for­dert daher zum einen auf, über den Zu­sam­men­hang von Ver­mei­dung von Kör­per­stra­fen und Lie­bes­ent­zug zu spre­chen. Der Lie­bes­ent­zug be­las­te auch die El­tern stark, so Stamm. Zum an­dern for­dert Stamm sogar eine Dis­kus­si­on über „pro­duk­ti­ve Ag­gres­si­vi­tät in der Fa­mi­lie“. Denn El­tern soll­ten er­ken­nen, dass sie ein ge­wis­ses Mass an Ag­gres­si­vi­tät leben dür­fen, „weil dies zum Mit­ein­an­der und zum Fa­mi­li­en­le­ben ge­hört“.

Mar­grit Stamm wird dafür wohl Prü­gel ein­ste­cken müs­sen, ver­drän­gen doch viele Men­schen, dass sie im All­tag und in der Fa­mi­lie öfter – wenn auch sub­til – ag­gres­si­ver agie­ren, als sie sich das selbst ein­ge­ste­hen. Auch ein Kind darf mal mer­ken, dass es die Mut­ter an den Rand der Ver­zweif­lung bringt. Wenn dies zu einer wort­rei­chen Aus­ein­an­der­set­zung führt, die schliess­lich nicht im Lie­bes­ent­zug, son­dern zu einer Ver­söh­nung und Um­ar­mung führt, lei­det das Kind ga­ran­tiert we­ni­ger, als an stun­den- oder ta­ge­lan­ger Nicht­be­ach­tung.


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