Welche Auswirkungen haben Flexibilisierung und Digitalisierung auf die Familie? Können sie davon profitieren, oder sind sie eher Opfer? Dieser Frage stellte sich die Jahrestagung von Pro Familia Schweiz (PFS) an einer Tagung am 24. Mai in Bern.
(SSF/im.) Nationalrat Laurent Wehrli, Präsident von Pro Familia, sprach im neuen Verwaltungsgebäude der Post – espace Post – von rasanten Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt. Roboter stehen vor der Tür. Sie bedrohen Arbeitsplätze. Flexibilität und Anpassung ist von den Mitarbeitenden gefragt. Sind die Unternehmen in diesem Umfeld in der Lage, günstige Bedingungen für die Familien zu schaffen, damit sie Berufs- und Familienleben wirklich befriedigend miteinander vereinbaren können?
Um Firmen dazu zu motivieren, hat Pro Familia Schweiz den Family Score lanciert, mit dem auf wissenschaftlicher Basis Firmen ihre Familienfreundlichkeit erfassen können, wozu unter anderem ein Online-Fragebogen (www.jobundfamilie.ch) entwickelt worden ist. Jährlich wird unter dieser Zielsetzung auch der Family Score Award an eine Firma vergeben, wie der neue PFS Direktor, Philippe Gnaegi, erläuterte. Das Tool ermöglicht Firmen, ihre Familienfreundlichkeit auszubauen und Lücken zu entdecken.
Die Firmenwelt – so und ganz anders
Die IT-Firma LiiP AG, die unter anderem Software für die Migros und die Raiffeisenbank produziert, bejaht dies überzeugend. Es handelt sich um einen modernen Typus eines Unternehmens, das netzwerkmässig und in Teams arbeitet, ohne eigentliche Hierarchien und Chefs. Ihre Organisation garantiert ihren Angestellten ein Höchstmass an persönlicher Flexibilität, wie LiiP-Mitbegründer Gerhard Andrey erläuterte, bevor er sich vorzeitig wieder von der Tagung absetzte. Er gehört zum Initiativkomitee der gleichentags lancierten Volksinitiative für einen Vaterschaftsurlaub. Die LiiP AG garantiert ihren Vätern schon heute vier Wochen Urlaub und nimmt so das Ziel der Initiative vorweg.
Dass Flexibilisierung und Beschleunigung in der Arbeitswelt Auswirkungen auf die Mitarbeitenden, insbesondere auf Paare und Familien haben, ist unbestritten. Die Psychologin Dana Unger von der ETH Zürich hat dazu geforscht. Sie stellt fest: Die Arbeitsplatzsicherheit hat abgenommen, es gibt mehr prekäre Arbeitsverhältnisse. Obwohl gemäss Umfragen die Arbeitszufriedenheit in den Unternehmen hoch ist, wirken sich Stress und insbesondere Arbeitsplatzunsicherheit messbar auf das Engagement in der Firma aus. Dies gilt besonders dann, wenn beide Partner von Unsicherheit betroffen sind. Sie bestärken einander in der Unsicherheit und als Folge davon in der Absicht zu kündigen.
Ein wesentlicher Faktor bezüglich Stress in den Firmen ist die Beschleunigung. Sie wirkt sich als verstärkten Zeitdruck, Entscheidungsdruck und Kompetenzdruck und als Folge davon als kürzere Arbeitsverhältnisse aus. Im Extremfall erfahren dies Mitarbeitende als Erschöpfung oder reagieren gar mit Zynismus. Bei Paaren ist das Privatleben mit zusätzlichen Konflikten belastet. Im umgekehrten Fall schöpfen zufriedene Menschen Ressourcen aus dem Berufsleben und verbinden sie mit den Ressourcen aus ihrem Privatleben, was zum Wohlbefinden in Beruf und im Privatleben führt.
Die Sicht der Arbeitgeber
Die Arbeitgeber reagieren darauf unterschiedlich. Daniella Lützelschwab, Leiterin des Ressorts Arbeitsmarkt und Arbeitsrecht beim Schweizerischen Arbeitgeberverband, rechnet mit einer Lücke von fast einer halben Million Vollzeitstellen in 10 Jahren. Sie begründet es unter anderem damit, dass die Substitution von Arbeitskräften durch die Automatisierung und Roboterisierung überschätzt werde. Die Alterung der Gesellschaft und die Annahme der Zuwanderungsinitiative bedeuteten eine Herkulesaufgabe für die Schweizer Wirtschaft. Ausserdem sei das Potenzial von Frauen und Teilerwerbstätigen in der Schweiz schon gut ausgeschöpft. Die Wirtschaft befinde sich in einem Balanceakt zwischen der Schaffung optimaler Rahmenbedingungen und internationaler Konkurrenzfähigkeit. Für eine Verbesserung der Mitarbeiterzufriedenheit durch flexible Arbeitsbedingungen oder zum Beispiel einen Vaterschaftsurlaub spürt sie wenig Druck. Zwar sei gemäss einer Erhebung des Seco das Arbeitstempo und der Termindruck in der Schweiz überdurchschnittlich hoch. Dennoch gaben 91 % der Befragten an, mit ihren Arbeitsbedingungen zufrieden zu sein. Nun verlangen die Arbeitgeber von der öffentlichen Hand eine Verbesserung der Tagesstrukturen für Kinderbetreuung sowi die Beseitigung von Fehlanreizen bei den Steuern. Flexible Arbeitsbedingungen sollten die Unternehmen direkt mit ihren Angestellten aushandeln. Man will dafür keine Gesetze, insbesondere auch keinen Vaterschafts- oder Elternurlaub. Um Verständnis für die Situation eine stark gewachsenen Familienunternehmens in der Uhren- und Hitech-Branche warb auch der CEO der DIXI SA in Le Locle, Pierre Castella.
Olivier Sandoz, Direktor des Westschweizer Unternehmerverbandes (www.fer-ge.ch), kündigte die 4. Industrielle Revolution an. Sie werde unter anderem eine Verschiebung von 5,1 Mio. Arbeitsplätzen vom Büro in die Informatik und den Verlust von 2 Mio. Stellen bringen. Die Schulen müssten der Informatik mehr Gewicht geben. Voraussetzung für die Zukunft sei ein flexibler Arbeitsdruck, wobei immer mehr Freelancer tätig sein werden. Dies habe aber auch Konsequenzen für die Sozialversicherungen. Die Schweiz sei aber für Industrie 4.0 gut aufgestellt.
Ein Dienstleistungskonzern mit Vorbildwirkung
Der Druck zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen insbesondere für Eltern scheint in der Dienstleistungsbranche besser verspürt zu werden als in der Industrie, wie das Beispiel AXA Winterthur zeigt. Laut Olivia Frei, Diversity Specialist des Konzerns, wünschen sowohl jüngere wie ältere Paare mehr Flexibilität. Im Fokus stehen auch die über 55-Jährigen, die Flexibilität bei der Pensionierung, aber auch Anerkennung für die Arbeit als ältere Mitarbeitende wünschen. Nicht nur Diversity sei wichtig, sondern Inclusion. Sie sollen vermehrt Beteiligte bei Entscheidungen sein. Frauen, die Karriere machen wollen, werden gezielt gefördert, indem bestehende „Stolpersteine“ aus dem Weg geräumt werden (Gender Mentoring). Die Firma kennt Angebote wie Kidsday, Kidsferien, Krippenplätze, Elternlunch und Family Care.
Auch die Kantone stehen in der Verantwortung, wenn es um Fachkräftemangel oder den hohen Schweizerfrankenkurs geht. Aniella Wirz, Leiterin der Fachstelle Volkswirtschaft des Kantons Zürich, erklärte, die Kantone engagierten sich im Arbeitsmarkt und Bildungsbereich sowie mit Unternehmenskontakten. Insbesondere die Nachwuchsförderung, die Verbesserung der Berufsbildung, die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben sowie der Einbezug älterer Fachkräfte (ab 45 Jahren!) stehen dabei im Vordergrund. Aber auch die Nachwuchsförderung der Mädchen. Gerade hier zeige sich aber, dass dies nicht ohne Verbesserung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie funktioniere. Doch die Massnahmen in diesem Bereich seien volkswirtschaftlich sinnvoll.
Die Sicht der Gewerkschaft
Schlieslich warb Adrian Wüthrich, Präsident der Gewerkschaft Travail Suisse, für die soeben lancierte Volksinitiative für einen vierwöchigen Vaterschaftsurlaub. Sie sei ein wirksamer Beitrag für eine verbesserte Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Und sie sei durch die EO ähnlich wie der Mutterschaftsurlaub ohne Probleme finanzierbar. Im übrigen sei die Schweiz das einzige Land Europas ohne einen Vaterschaftsurlaub. Dem Parlament, das in dieser Sache schon 30 Vorstösse verworfen habe, hielt er vor, an den Bedürfnissen der Bevölkerung vorbei zu politisieren. Wüthrich forderte zudem eine Palette von Verbesserungen wie höhere Familienzulagen, Betreuungszulagen für pflegende Angehörige, eine Auszeit für die Pflege, Jobsharing und Topsharing für Arbeitsplätze mit Führungsverantwortung und ein Recht auf einen Kita-Platz im Vorschulalter.
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