Fachleute sind sich einig. Wenn ein Paar berufstätig sein will und auch noch Kinder haben will, kommt es an die Grenzen der Belastbarkeit. Zur Liste der Vorschläge, wie die Work-Life Balance für Eltern aussehen könnte, kommt jetzt eine neue, spannende Idee der innovativen Denkerin Margrit Stamm.
(SSF/im.) Im wirtschaftlichen Boom nach dem Zweiten Weltkrieg war die Sache noch relativ einfach. Ein Lohn reichte in der Regel, um eine Familie zu ernähren. So blieben die Ehefrauen zuhause und hatten Zeit für die Erziehung, Hausarbeiten, Garten und das Nähen der Kleider. Und die Einkommen der Männer reichten nicht nur für zwei Kinder aus, sondern für drei und mehr. Die Wirtschaft florierte, und auch die Fachkräfte konnten zum grossen Teil aus der heimischen Bevölkerung rekrutiert werden. Aus dem Ausland kamen vor allem die Hilfskräfte für den Bau und für wenig qualifizierte Arbeit. Der grosse Teil der Frauen konnte sich mit der Rolle der Ehefrau, Erzieherin und Mutter identifizieren. Wer als Mutter berufstätig war, riskierte bissige Kommentare.
Alles änderte sich mit der Emanzipationsbewegung. Sie forderte die Frauen auf, sich nicht nur gut auszubilden, sondern „ihren Mann“ auch beruflich, in der Gesellschaft, Wissenschaft, Kultur und Politik zu stellen. Damit wurde ein enormes Potenzial an weiblichen Kompetenzen auch für die Wirtschaft erschlossen. Allerdings mit der Folge, dass die Kinderzahlen rückläufig wurden und der Nachwuchs, der für den Erhalt der Bevölkerung und die Jobs in manchen Bereichen erforderlich war, immer öfter fehlte. Es entstand ein Vakuum, und damit stiegen die Emigration ausländischer Fachkräfte und der Druck auf die Frauen, sich auf Kosten der Familienarbeit mehr im Beruf einzusetzen.
Der neue Dreiklang
Damit wurde es immer schwieriger für berufstätige Paare, auch Kinder zu haben und Zeit für Partnerschaft und Familienarbeit aufzubringen. Das Erziehen und Begleiten des Nachwuchses, eine elementare Aufgabe für die Familien, musste vermehrt durch familienexterne Angebote unterstützt werden. Viele Paare schaffen es zwar, durch Teilzeitarbeit eines oder beider Partner einen grossen Teil der Betreuungsarbeit zu leisten. Dennoch kommen sie an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit, insbesondere wenn die Umstände – oder die Arbeitgeber – die Teilzeitarbeit nur bedingt zulassen. Die Metapher Kinder – Küche – Kirche wird zum Dreiklang Kinder – Karriere – Krise.
Kreativität ist gefordert. Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist zum dominierenden Thema von familienpolitischen Veranstaltungen geworden, die aber relativ wenig bewegen können. Gleichzeitig gefährdet der Stress viele Paarbeziehungen und damit ganze Familien, wie insbesondere Prof. Guy Bodenmann, Familientherapeut und Leiter des Psychischen Instituts an der Universität Zürich, immer wieder hervorhebt.
Nun macht die emeritierte Professorin für Pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaft an der Uni Fribourg und Direktorin des Forschungsinstituts Swiss Education in Bern, Margrit Stamm, einen neuen Vorschlag. Sie schlägt vor, die Rushour zwischen 30 und 45 zu „entzerren“.
Familienpolitik als Zeitpolitik
Laut Margrit Stamm muss die heutige Gesellschaft vom Dreiphasenmodell Kindheit und Ausbildung – Beruf und Karriere – genussvoller Ruhestand wegkommen. „Denn das gegenwärtige Lebenslaufregime bröckelt durch demographische Veränderungen, neue Rollenbilder und Stresserkrankungen“, so Stamm in der „Nordwestschweiz“ vom 3. Oktober. Zum einen nimmt sie die 65-Jährigen in Pflicht, ihre Erfahrungen und Kompetenzen weiter sinnvoll einzubringen. Zum andern fordert sie die Möglichkeit von Unterbrechungen und Neuanfängen im Berufsleben und eine Entlastung der 30 bis 45-Jährigen. Karrieren sollen nicht zwingend in dieser Zeit gemacht werden, sondern auch nach der aktiven Familienphase. Stamm: „Eine solche Lebenslaufpolitik verabschiedet sich auch von der fixen Idee, dass man im Leben alles früh erreicht haben muss“. Das würde auch bedeuten, dass Mütter nicht unter Druck stehen müssen, möglichst bald wieder Vollzeit zu arbeiten. Und Väter wären nicht mehr gefordert, „in 80-Stunden-Wochen alle Anforderungen zwischen Beruf und Familie zu managen“. Eltern sollen dagegen in der intensiven Familienphase 30-45 weniger arbeiten, aber wieder zulegen können, wenn die „Empty-Nest-Phase“ näherrückt.
Es wird spannend sein zu beobachten, ob dieser Anstoss eine Chance hat, in Politik und Wirtschaft gehört zu werden.