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Familienkommission des Bundes stellt dringenden Handlungsbedarf fest

Im Umgang des Staates und seiner Behörden mit Familien, die sich getrennt haben, stellt die Eidgenössischen Kommission für Familienfragen (EKFF) erhebliche Defizite fest, die auch nach Gesetzesanpassungen rufen. Sie hat daher an einer Tagung in Bern am 1. Dezember eine Reihe von Empfehlungen an die «Akteurinnen und Akteure auf nationaler, kantonaler und kommunaler Ebene» gemacht.


Die ersten drei Empfehlungen zielen auf eine bessere Beziehungsqualität und ein echtes Miteinander der getrennten Eltern und ihrer Kinder. Dazu braucht es laut EKFF ein niederschwelliges Beratungsangebot, das Betroffene vor und während der Trennungsphase in Anspruch nehmen können. Dazu gehöre eine gesetzliche Anordnung von Mediation und Beratung in strittigen Fällen im Rahmen einer institutionalisierten Zusammenarbeit. Dabei müssten auch die in der UNO Kinderrechtskonvention festgeschriebenen Kinderrechte besser wahrgenommen werden. Insbesondere müssten Kinder (besser) angehört und in den Prozess einbezogen werden. Dabei betont die EKFF die gemeinsame Betreuungsverantwortung als zeitgemässe Regelung. Sie soll auch begrifflich die „elterliche Obhut“ ersetzen.


Dazu sagte der Familienrechtler Jonas Schweighauser, Titularprofessor an der Universität Basel, die Ausrichtung des Familienrechts auf die Ehe sei nicht mehr zeitgemäss. Das Recht müsse sich vielmehr auf die gelebten Beziehungen und faktischen Lebensgemeinschaften ausrichten und diese mit der Ehe gleichstellen, ohne aber die Ehe aufzugeben. Allerdings müssten solche faktischen Lebensgemeinschaften erst definiert werden, was auch zu Beweisproblemen führen würde. Der schweizerische Gesetzgeber konzentriere sich aber aktuell auf den Pacte civile (Pacs), das Ehe-light-Modell aus Frankreich. Statt die elterliche Obhut bzw. Sorge solle der Gesetzgeber die „elterliche Verantwortung“ festschreiben und diese auch auf Drittpersonen wie Stiefeltern, Pflegeeltern, aber auch Grosseltern und Patchwork-Situationen ausweiten.


Alltagstaugliche Lösungen


Die EKFF fordert im weiteren „alltagstaugliche und egalitäre Lösungen“. Dazu gehöre die Vergünstigung der familien- und schulergänzenden Betreuungsangebote und die Sicherung des Zugangs zu diesen Angeboten.. Zudem müsse der gesellschaftliche Diskurs über Elternschaft und Familie intensiviert werden, wobei man sich an einem „Diversity-Leitbild“ orientiere.


Dazu sagte Heidi Stutz, Mitarbeiterin des Büro Bass, dass sich in der Schweiz bezüglich Betreuungsangeboten grosse Unterschiede zwischen der Deutsch- und Westschweiz gezeigt hätten. In der Westschweiz seien die Betreuungsangebote auch kostengünstiger und damit der Anreiz für eine höhere Erwerbsquote bei Betreuungspersonen auch grösser. Allerdings sei in der Westschweiz der Anteil von Kindern, die an zwei Wohnorten betreut werden, auch erheblich grösser.

Ein Schlaglicht werfen Studien des Büros Bass zur Lage getrennter Familien auch auf die Kosten und Einkommensausfälle für die Erstfamilien, also nicht getrennt lebende Familien, sobald das erste Kind auf die Welt kommt. Die Reduktion des Erwerbseinkommens von Familien sinken bei der Geburt des ersten Kindes und wirken sich weit über die Kinderphase hinaus, sowohl auf die Karriere wie auch auf die Altersvorsorge aus, stellte der Ökonom Severin Bischof vom Büro Bass fest. Er stellte in Bern erste Ergebnisse einer noch unveröffentlichten Studie zum Thema Geburt und Scheidung auf die wirtschaftliche Situation von Familien in der Schweiz vorstellte.


Bessere strukturelle Rahmenbedingungen


Die gemeinsame Betreuungsverantwortung erfordert laut EKFF „strukturelle Rahmenbedingungen, die es allen Familien ermögliche, selbstgewählte Erwerbs-, Wohn- und Betreuungsanteile zu definieren“. Dies soll auch für die Bemessung von existenzsichernden Leistungen wie Sozialhilfe, Ergänzungsleistungen oder betreibungsrechtliches Existenzminimum gelten. Ausserdem sollten sich öffentliche Verwaltung, Schulen und private Institutionen auf die Bedürfnisse von „Familien mit multilokalen Arrangements“ ausrichten und Benachteiligungen, zum Beispiel bei Steuerabzügen, Betreuungskosten und Prämienverbilligung, beseitigen. Im Weiteren sollten die bestehenden Gesetze und Verordnungen nach dem Grundsatz der gemeinsamen Betreuungsverantwortung überarbeitet werden.


Der Scheidungsanwalt Diego Stoll aus Binningen nahm in Bern auch Stellung zur Diskussion über die höhere Eigenverantwortung von lange verheirateten Ehefrauen, die ein Bundesgerichtsurteil aufgeworfen hat. Laut Stoll muss das Urteil differenzierter beurteilt werden, als dies in den meisten Medien geschah. Nach wie vor würden von den Gerichten zahlreiche Faktoren für die Bemessung der Eigenleistung von nicht erwerbstätigen Ehegatten nach einer Scheidung berücksichtigt, wobei er einräumte, dass in der Tendenz von Ehepartnern, die vor allem langjährige Familienarbeit geleistet haben, mehr verlangt werde.


Ein Fazit und eine weitere Forderung


Die Eidgenössische Kommission für Familienfragen (EKFF) fokussiert sich in ihren Empfehlungen auf einen wachsenden gesellschaftlichen Bereich, der heute unter mannigfachen Diskriminierungen leidet. Dass sich Politik und Gesellschaft den Betroffenen mehr zuwenden muss, verdient Unterstützung. Umgekehrt ist zu wünschen, dass sich die Kommission in Zukunft erneut den Erstfamilien und ihren Problemen und Benachteiligungen zuwendet, die nicht nur im Steuerrecht bestehen. Immerhin wachsen nach wie vor 81 Prozent der Kinder in solchen auf. So ist zum Beispiel die Benachteiligung von Eltern im Zusammenhang mit beruflichen Chancen bzw. der Benachteiligung von Eltern nach dem Elternurlaub in den Fokus gerückt.

Unterstützung verdient namentlich die geforderte niederschwellige Beratung für Familien in der Trennungsphase. Zu wünschen wäre, dass sich die EKFF auch für eine niederschwellige Beratung von verheirateten Eltern und Familien im Sinne einer Prävention von Trennungen und Scheidungen einsetzt. Dieses Anliegen wurde vom Bundesrat bislang immer zurückgewiesen, was schwer nachzuvollziehen ist. Denn eine Vermeidung von Scheidungen ist immer noch viel besser als der Umgang mit den Problemen, die Trennungen verursachen. Gerade auch, was die gesellschaftlichen und monetären Kosten betrifft, denn jede Veränderungsforderung wird bekanntlich in der Schweizer Politik immer zuerst an den Kosten gemessen. Dabei sollte aber keinesfalls am Wohl des Kindes gespart werden, denn eine hohe Einvernehmlichkeit zwischen beiden Elternteilen schlägt sich am stärksten auf dieses nieder – bei verheirateten wie auch bei getrennt lebenden Paaren.


Die Präsidentin der Eidgenössischen Kommission für Familienfragen (EKFF), Monika Maire-Hefti, stellte jedenfalls in ihrem Schlussplädoyer fest: „Wir machen eine schlechte Familienpolitk in der Schweiz – Die Politik muss mehr Mut beweisen.“



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