Muriel Urech Tsamis und ihr Mann Dimitris sind seit 17 Jahren ein Paar und haben vier Kinder. Im November 2019 stirbt Dimitris völlig unerwartet an einem Hirnaneurysma. Von einem Tag auf den anderen steht Muriel alleine da. Im Interview1 erzählt sie uns nicht nur, wie sie die letzten Monate gemeistert hat, sondern auch, wieso es ihr verstorbener Partner ist,d er ihr den Mut und die Kraft gibt, weiterzumachen.
Wir sind mit einem oder zwei Kindern oft schon überfordert und findenden Spagat schwierig. Du hast vier Kinder. Wie machst Du das?
Klar, es ist viel und es bedarf viel Organisation, aber es ist auch sehr schön. Vereinbarkeit ist ein allgegenwärtiges Thema. Auch eines, welches meine Berufswahl stark beeinflusst hat. Sprich: Es gab Berufe, die kamen einfach nicht in Frage. Ich wäre zum Beispiel gerne Pilotin geworden. Aber ich war über-zeugt, dass das unmöglich sein würde, wenn ich eine Familie haben möchte. Dann wollte ich Zahnärztin werden. Ich hatte mich bereits an der Uni eingeschrieben und dann wieder einen Rückzieher gemacht, weil ich meinen Kinderwunsch hätte verschieben müssen– das Studium geht ja doch relativlange.
Du wurdest dann während deines Tourismus-Studiums ungeplant schwanger. Erzähl!
Mir wurde ein gynäkologisches Problem diagnostiziert, welches eine Schwangerschaft eigentlich ausschloss. Das war für mich eine absolute Schockdiagnose. Während meines Studiums zur Tourismusfachfrau an der Hochschule Luzern wurde ich dann trotzdem schwanger. Es war das grösste Geschenk überhaupt.
Wie ging es weiter?
Ich war 23, in Ausbildung, ohne finanzielles Polster. Die Reaktionen waren: Treib ab. Aber das wäre für mich nie in Frage gekommen. Also haben wir uns darauf eingelassen.
Ihr, das warst du und dein Mann. Gemeinsam seid ihr wenig später nach Griechenland ausgewandert und habt euer zweites Kind bekommen. Das tönt nach einem grossen Abenteuer.
Das war es. Wir haben in Griechenland, dem Geburtsland meines Mannes, ein Reisebüro geführt. Und ich bin wieder Mutter geworden. Selbstständig in einem fremden Land – es gibt viele Anekdoten aus dieser Zeit. Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist auch in Griechenland nicht nur immer einfach.

Genau wie in der Schweiz nicht. Auch da kannst du ein Liedchen davonsingen, oder?
Als ich mit Nummer 3 schwanger war, sind wir zurück in die Schweiz gekommen. Erst haben wir ein Restaurant geführt, dann ein Hotel. Das Baby habe ich oft zwischen Kühlschrank und Tiefkühler in der Küche gestillt, eine Zeit lang hatten wir eine Nanny aus Griechenland bei uns …Dann wurde ich zum vierten Mal schwanger. Und mein Mann beschloss, seine Vaterrolle neu zu überdenken.
Das heisst?
Er sagte mir, dass er seine Karriere gemacht habe und sich nun mehr um die Kinder kümmern könne. Auch damit ich meinen eben erst begonnenen Masterstudiengang zu Ende machen könne. Er hat wirklich Schritt für Schritt oder besser Kind für Kind mehr übernommen. Beim ersten Kind hat er nichts gemacht, beim zweiten hat er mich unterstützt, beim dritten hat er angefangen mit anzupacken und beim vierten hat er quasiübernommen.
Das tönt famos. Gab es nie Meinungsverschiedenheiten?
Doch, klar. Der Haushalt war beispielsweise nicht immer so gemacht, wie ich ihn machen würde. Aber ganz ehrlich: Ist das denn so schlimm? Er hat es eben auf seine Art gemacht. Das verlangt nach einer gewissen Toleranz. Das ist auch bei der Erziehung so.
Wie meinst Du das?
Man kann seine Kinder nur abgeben, wenn man Vertrauen hat. Und wenn man akzeptiert, dass eine andere Person das zwar anders macht, aber dafür nicht weniger gut.
Wird man vier Kindern immer gerecht?
Nein, aber wird man einem immer gerecht? Man muss viel organisieren und sich oft aufteilen. Klar habe ich manchmal ein schlechtes Gewissen. Aber meine Kinder haben dadurch, dass sie viele Geschwister haben, eben auch Dinge, die andere nicht haben. Zum Beispiel starken sozialen Kontakt, einen Familienzusammenhalt …
Zu zweit vier Kinder gross ziehen ist eine Sache. Aber du hast im November 2019 einen schlimmen Schicksals- schlag erlebt: Dein Mann ist gestorben.
Dimitris hat ein Hirnaneurysma erlitten. Ich kann mich noch genau an diesen Tag erinnern. Wir haben zusammen gefrühstückt und ich bin um 08:15 Uhr aus dem Haus gegangen, um an einem Seminar zum Thema Women Empowerment teilzunehmen. Er hat sich noch lustig darüber gemacht und mich aufgezogen, dass ich jetzt zu einer Feministin werde. Er hat sich den ganzen Tag nicht gemeldet, das war unüblich, aber ich dachte, er mache es extra.
Dann die Hiobsbotschaft. Wie hast du das erlebt?
Es war eine Katastrophe. Als ich am Nachmittag nach Hause kam, stand ein Mitarbeiter meines Mannes bei uns an der Haustür und sprach mit meiner Tochter. Er erzählte uns, dass Dimitris quasi in seinen Armen zusammengebrochen und mit der Rega ins Spital nach Zürich geflogen worden sei. Eine Nachbarin hat die Kinder übernommen und ich raste dorthin.
Was geschah dann?
Anfangs habe ich einfach nur funktioniert. Ich wusste ja nicht, was geschehen war, wusste nicht, wie es ihm geht. Dimitris war zwei Wochen im Koma – die Hoffnung ging rauf unter runter. Nach diesen zwei Wochen haben die Ärzte eine Hirnstrommessung gemacht. Und da war einfach nur diese gerade Linie …
Und du musstest dann eine Entscheidung fällen…
Dimitris wäre für immer im Wachkoma geblieben. Sein Kör- per lebte, aber nicht sein Geist. Ich musste also entscheiden, ob man ihn weiterhin künstlich ernähren sollte oder nicht. Ich habe den Arzt gefragt: Muss ich das jetzt ganz alleine entscheiden? Dieser gab zur Antwort: Nein, eigentlich ist es die Entscheidung ihres Mannes. Würde er so leben wollen?
Du wusstest darauf eine Antwort?
Ja. Dimitris' Mutter war 12 Jahre bettlägerig. Und er hat immer gesagt: Das ist nicht leben, das ist vegetieren. Für mich war es zudem nicht natürlich. Denn leben heisst ja auch, sich selbst zu ernähren. Auch habe ich mich gefragt: Wie ist es mit solch einem Papi aufzuwachsen? Was macht das mit den Kindern?
Hattest Du je ein schlechtes Gewissen?
Nein. Ich habe gespürt, dass er gekämpft und dass er verloren hat. Er hätte es so gewollt.
Stirbt eine Person, kommt neben dem ganzen emotionalen Schock auch ein riesiger Berg Administratives auf einen zu. Wie hast Du das erlebt?
Dimitris war selbstständig und es gab ein laufendes Business. Das musste ich übernehmen. Hinzu kamen die ganzen Behördengänge, die Abdankung … Es war erschlagend. Ich bin zudem eine Perfektionistin und sehr ambitioniert, aber ich konnte unmöglich allem gerecht werden. Plötzlich war da eine Betreibung oder ich vergass einen Schultermin der Kin- der – Dinge, die mir noch nie passiert waren.
Hattest du Hilfe?
Ja. Mein Umfeld war grossartig und hat versucht zu helfen, wo auch immer es ging. Aber ganz ehrlich: Ich habe noch immer nicht alles erledigt. Es braucht Zeit – auch emotional. Und man muss extrem ehrlich sein. Zu sich selbst und zu seinen Mitmenschen und ab und zu sagen, dass es halt nicht geht. Das ist das, was ich am meisten gelernt habe.
Was genau?
Mich zu fokussieren. Auf diejenigen Dinge und Menschen, die mir wichtig sind.
Kurz nach dem Verlust Deines Mannes kam auch noch Corona – ein Lockdown, wenn man eh schon alleine ist … wie erging es Dir?
Corona war und ist schwierig. Wir hatten immer viele Gäste, hatten ein grosses Netzwerk. Mit Corona ist alles zusammengebrochen. Wir waren im ersten Lockdown sehr isoliert. Das war nicht schön. Und vor allem nicht einfach.
Herausforderungen und Schicksalsschläge in der Familie zu meistern bedeutet, dass man spezielle Fähigkeiten anwenden muss, neue vielleicht sogar dazu lernt. Welche sind das bei Dir?
Ich glaube, die eine Fähigkeit ist Vertrauen zu haben und erstens abgeben zu können und ans Gute zu glauben. Mit dem Tod meines Mannes fielen viele Dinge auf mich, die er übernommen hatte. Da ich mich nicht in Stücke reissen kann, mussten mehrere Dinge meine Töchter übernehmen – die grösseren holen zum Beispiel die kleineren Geschwister ab. Oder eine Dame von der Familienhilfe kocht 1x wöchentlich für meine Familie. Das braucht erstens viel Vertrauen in die Kinder und in andere Menschen, dass sie es gut können. Die andere Fähigkeit ist Offenheit. Während ich die nicht in die Wiegegelegt bekommen habe, hat mich mein Leben immer mehr gelehrt, dass Offenheit meist viele Probleme und Konflikte löst. Doch mit dem Schicksalsschlag verstärkte ich diese Fähigkeit enorm: Ich lernte, mich und die Kinder proaktiv zu erklären in jeder Situation, um Wunden und Unangenehmes zu minimieren. Menschen können stark überfordert sein im Umgang mit Trauernden. Das schmerzt manchmal. Deswegen gehe ich offen mit der Situation und teile mich und meine Gefühle mit. So nimmt man der anderen Person die Angst und verarbeitet selbst viel besser. Meine dritte Fähigkeit, die ich ausgebaut habe im Zusammenhang mit dem Schicksalsschlag, ist Toleranz. Jeder Lebensentwurf ist anders. Jeder Mensch handelt und denkt anders. Es ist wichtig, andere Meinungen respektieren zu können. Genau diese Vielfalt macht das Leben ja interessant. Wie öde wäre unsere Welt, wenn alle gleich denken und handeln würden.
Glaubst Du, dass diese Fähigkeiten als «Mom of 4» relevant für Dein Business sind?
Ja, diese Fähigkeiten empfinde ich in meinem Business als Bloggerin sehr relevant:
Vertrauen ins Gute brauche ich, wenn etwas harzig läuft zum Beispiel. Offenheit hilft mir immer wieder, neue Themen zu behandeln und verschiedene Momente meines Lebens zu teilen.
Toleranz ist das A und O beim Community Management, fängt aber schon beim Schreiben an, wenn man verschiedene Themen anspricht und möglichst von verschiedenen Blickwinkeln aus das Themadurchdenkt. Als Bloggerin ist man eine öffentliche Person und schaut, dass veröffentlichter Content z.B. nicht diskriminierend wirkt.
Wie geht es Dir heute?
Gut. Ich werde Dimitris nie vergessen. Wir waren die beiden Menschen, die zusammengehörten. Er war der Teil, der mich komplett machte. Und er ist auch der Grund, warum ich weiss, dass mein Leben nicht vorbei ist.
Wie meinst Du das?
Als ich Dimitris kennenlernte, war er beinahe so alt, wie ich war, als er gestorben ist. Das gibt mir Mut. Er hat mich kurz vor 40 kennengelernt, sein Leben hat dann eine neue Wendung genommen.
Kannst Du Dir vorstellen jemand Neuen kennenzulernen?
Ja, das kann ich. Ich kann mir nicht vorstellen, ohne jemanden zu sein. Und ich glaube auch, dass es möglich ist, zwei Mal den perfekten Menschen zu finden. Ich bin überzeugt, dass man mehrere Lieben haben kann in einem Leben. Denn je mehr man liebt, umso grösser wird das Herz. Emotional positive Gefühle ist das, was mich im Leben antreibt. Ich will nicht die gebrochene, trauernde Witwe sein. Das Leben geht weiter.

Muriel Urech Tsamis ist Lead Global Content & Digital bei Cafè Royal International und betreibt ihren eigenen Blog. Gemeinsam mit ihren vier Kindern (5, 9, 13 und 18) wohnt sie in Zug.
MOMOF4.CH
MOMof4 entstand durch Muriels Hebamme, die sie darauf aufmerksam machte, wie schön es wäre, wenn andere Mütter Erfahrungen von Mehrfachmüttern erfahren könnten. Ein wahrhaft inspirierender Blog für alle Mütter (und Väter).
1 Das Interview wurde vom Tadah_Magazin durchgeführt, das uns freundlicherweise das Copyright erteilte. Die SSF-Redaktion hat das Interview zum Teil gekürzt und mit zwei Fragen ergänzt. Zum Originalinterview: https://magazin.tadah.ch/muriel-urech-tsamis/
Fotos: Dominic Wenger