Kinder, die in fürsorglichen Beziehungen aufwachsen, haben einen höheren IQ, höhere soziale Kompetenzen und Freundschafsbeziehungen und können ihre Emotionen besser regeln. Dies erklärt der Pädagoge und Psychologe Prof. Henri Julius. Er ist Experte für Sonderpädagogik.
Prof. Henri Julius ist seit 2013 Direktor des Ausbildungsinstituts für bindungsgeleitete pädagogische Intervention AIBIPI in Berlin. Er erläuterte seine Erkenntnisse über Aggression bei Jugendlichen an einer Fachtagung am 27. August an der Universität Zürich auf dem Irchel. Er wies dabei auf die Bedeutung von Oxytocin hin, einem im Gehirn produzierte Hormon, welches das Verhalten zwischen Mutter und Kind sowie zwischen Geschlechtspartnern beeinflusst und ganz allgemein soziale Interaktionen beeinflusst und steuert. Es wird zum Beispiel beim ersten Körperkontakt des Neugeborenen mit seiner Mutter freigesetzt uns löst erstaunliche Effekte aus. So zum Beispiel die Synchronisation des Herzschlags von Mutter und Kind.
«Urknall der Bindung»
Julius spricht in diesem Zusammenhang von einem «Urknall der Bindung». Später erleichtert Oxytocin das soziale Annäherungsverhalten, reduziert soziale Ängstlichkeit und erhöht das Vertrauen. Es ermöglicht etwa auch, den emotionalen Zustand eines Mitmenschen aus dessen Gesichtsausdruck zu erschliessen.
Folgen des Bindungsdefizits
Wenn es zu keiner liebevollen Beziehung des neugeborenen Kindes zu seinen Bezugspersonen kommt, bewirkt dies eine unsichere oder desorganisierte Bindung mit ebenso zahlreichen Auswirkungen wie Ängstlichkeit, mangelnde Fähigkeit der Aggressionsbewältigung, mangelnde Empathie, fehlendes Vertrauen etc. Dies ist wiederum hirnphysiologisch bedingt durch eine vermehrte Ausschüttung des Hormons Cortisol sowie Adrenalin und Noradrenalin. Diese Kinder befinden sich dadurch mehr oder weniger permanent in einem sogenannten «Fligth-&Fight-System» (Flucht- und Kampf-System). Dies im Gegensatz zu den sicher gebundenen Kindern, die ein «Calm-&Connectiing» (Ruhe- und Verbindungs-System) aufbauen, verursacht durch die verstärkte Ausschüttung von Oxytocin.
Daher fallen unsicher oder desorganisiert gebundene Kinder im Kindergarten und in der Schule negativ auf und beanspruchen vom pädagogischen Personal trotz ihres Verhaltens ebenso viel positive Aufmerksamkeit wie die Kinder aus guten Bindungsverhältnissen. Sie beanspruchen damit das Betreuungs- und Lehrpersonal deutlich stärker.
Ein Drei-Ebenen-Programm
Solche Kinder benötigen trotz den bestehenden Schwierigkeiten eine sichere Bindungsbeziehung. Sie ist laut Julius der «stärkste Prädiktor für die soziale, emotionale und kognitive Entwicklung» des Kindes». Der Sonderpädagoge stellte dazu das CARE® Programm vor, das mit einer Intervention auf drei Ebenen arbeitet und dabei die psychische und physische Dimension des Kindes anspricht. Dabei soll der Pädagoge oder die Pädagogin mit Feinfühligkeit eine Beziehung zum Kind herstellen, Beziehungserfahrungen ermöglichen und den Aufbau einer sicheren Bindung unterstützen. Denn die vorhandenen Störungen lassen sich, so Henri Julius, nur wieder im Rahmen von Beziehungen beheben!

Hinweis: Henri Julius ist Mitverfasser eines Buches zu diesem Thema: Julius, H., Uvnäs-Moberg, K., & Ragnarsson, S. (2020). Am Du zum Ich – Bindungsgeleitete Pädagogik: Das CARE-Programm. Reykjavik: Kerlingarholl. ISBN 979 866 930 4621
Bild: Prof. Henri Julius / Uni Rostock