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Stiefkind Familienpolitik Schweiz

Philipp Gnaegi, Direktor von Pro Familia Schweiz und Professor an der Uni Fribourg, hat zusammen mit EKFF*-Geschäftsleiterin Nadine Hoch in einem neuen Buch den aktuellen Stand der Familienpolitik in der Schweiz zusammengetragen und ein Fazit gezogen.


Obwohl die Familienpolitik des Bundes eine untergeordnete Rolle spielt und auch hier meistens auf die Kantone verwiesen wird, berührt sie letztlich zahlreiche Bereiche und Themen, angefangen von günstigen Familienwohnungen bis hin zur Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das Buch zeigt auf, dass die verschiedenen Akteure, insbesondere auch Politik und Wirtschaft, zusammenarbeiten müssen, um kohärente Lösungen zu finden. Denn, so Philipp Gnaegi: „Familienpolitik nimmt im täglichen Leben eine immer wichtigere Stellung ein.“


Das Problem beginnt bei der Familiendefinition


Die erste Frage, wenn es um Familienpolitik geht, lautet allerdings: Was ist überhaupt eine Familie. Darin spiegelt sich die beinahe unübersehbare Pluralität unserer Gesellschaft. Was bedeutet es also ganz konkret, wenn in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgehalten ist: „Die Familie ist die natürliche und grundlegende Einheit der Gesellschaft und hat Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat“?


Wenn es zum Beispiel um die sozialen Ziele der Familienpolitik geht, heisst es in der Bundesverfassung (Art. 41, Abs. I, lit. c,) dass „Familien als Gemeinschaften von Erwachsenen und Kindern geschützt und gefördert werden“. Eine rechtlich nicht ganz einfache und letztlich schwammige Definition, denn Blutsverwandtschaft und alle anderen rechtlich konstituierten Eltern-Kind-Verhältnisse gelten so bereits nicht mehr als eine Voraussetzung für Familie.


Ein Kompendium


Das Buch bietet ein Kompendium der verschiedenen Bereiche und Themen rund um die Familie für alle, die sich mit Familienpolitik beschäftigen. Nach einem Tour d’Horizon durch die Themenbereiche Kinderkosten, Ergänzungsleistungen für Familien, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, Frauen in Führungspositionen, Angehörigenbetreuung, Familie und Wohnen, Familie und Migration etc., etc. folgt ein Fazit der Autoren.


Es gibt viel Handlungsbedarf


In seinem Fazit ortet Philipp Gnaegi auf folgenden Gebieten Handlungsbedarf:

Erstens eine Einführung der Elternzeit, damit das traditionelle Rollenmuster (Vater für die Erwerbsarbeit, Mutter für Care- und Haushalt) durchbrochen wird. Insbesondere sei die Gleichberechtigung von Mann und Frau im Alltag zu realisieren. Zweitens eine Familienbesteuerung, die nicht mehr Eltern benachteiligt, die beide erwerbstätig sind. Drittens eine bessere finanzielle Unterstützung von bedürftigen Familien, insbesondere auch die Deckung von indirekten Familienkosten. Eine wirksame Methode wäre dabei eine flächendeckende Einführung von Ergänzungsleistungen für Familien. Viertens sei der Bereitstellung von erschwinglichem Wohnraum für Familien Priorität einzuräumen.


Familienpolitik muss zur Generationenpolitik werden


Dabei sei auch auf neue Formen des familialen Zusammenlebens zu achten, insbesondere darauf, dass Familien heute aus mehreren Generationen bestehen. Die Familienpolitik dürfe sich somit nicht weiterhin nur auf zwei Generationen beziehen. Zu berücksichtigen seien vielmehr die Leistungen der älteren Generationen für die jüngeren (zum Beispiel Kinderbetreuung und Wissenstransfer) und umgekehrt (zum Beispiel Altenpflege). Familienpolitik müsse zur Generationenpolitik werden. Modelle dazu gibt es, und sie sind zum Beispiel in unserer Rezension eines Buches von Remo Largo erwähnt.


Die Kehrseite der Vereinbarkeit


Gute Rahmenbedingungen dafür seien umso wichtiger, als immer mehr Frauen in der Berufsarbeit integriert seien. Es gehe dabei um Milliarden, die bislang ohne Entgelt geleistet werden. Ausserdem sei dafür zu sorgen, dass auch Benachteiligte aller Generationen den Anschluss an die digitale Welt nicht verpassen, sodass die Solidarität zwischen den Generationen, aber auch zwischen Arm und Reich funktioniere.


So gesehen würde es aus unserer Sicht Sinn machen, alle staatlichen Transferleistungen diesbezüglich auf den Prüfstand zu stellen und Familienarbeitszeit aller Generationen eine formelle und wo nötig auch finanzielle Anerkennung zu gewähren (siehe dazu unseren Artikel "Ein Zertifikat für Familienarbeit?! im Zusammenhang mit dem Postulat 21.4227 von Nationalrätin Marianne Binder-Keller). Die Autoren erwähnen zudem die Integration der Familien mit Migrationshintergrund, Familien mit Kindern mit besonderem Bildungs- und Betreuungsbedürfnissen sowie die häusliche Gewalt als Handlungsfelder.


Blinde Flecken


Was die Autoren nicht erwähnen: Seit bald 30 Jahren erkannt, aber immer noch nicht umgesetzt, sind nötige Anpassungen für Menschen, die auch im Pensionsalter noch heiraten möchten. Für sie gibt es heute ein faktisches Heiratsverbot, wobei die plafonierte Ehepaars-AHV nur ein Beispiel ist. Auch bestehende Witwenrenten gehen nach einer erneuten Heirat verloren und der Anspruch auf eine Witwenrente des neuen Ehepartners wird erst nach einer mehrjährigen Wartezeit wirksam.

Ebenso wenig haben die Autoren die Bedeutung informell erworbener Eltern- und Familienkompetenzen berücksichtigt, welche für die Erwerbsarbeit zunehmend an Bedeutung gewinnen. Soft Skills, die im Familienalltag entwickelt werden, bleiben bei den Arbeit Gebenden noch viel zu häufig unberücksichtigt. Im Kapitel über die positiven Wirkungen der Familienfreundlichkeit von Firmen hätte dies Erwähnung finden können.


Ein Appell zum Schluss


Die Autoren schliessen mit einem Appell an die Politik, die Anliegen der Familien ernster zu nehmen: „Auch wenn die Familienpolitik noch wenig entwickelt ist, muss jeder von uns die wirtschaftlichen, sozialen, rechtlichen, politischen und demographischen Herausforderungen erkennen können. Es ist unerlässlich, dass die verschiedenen Akteure unserer Gesellschaft ihr die Bedeutung beimessen, die sie verdient.“


*) Eidgenössische Kommission für Familienfragen (EKFF)



Das Buch


Die Familienpolitik in der Schweiz

Gnaegi, Philippe / Hoch, Nadine, Schulthess Verlag

Zürich 2022, 418 Seiten – 978-3-7255-8376-8

CHF89.00








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