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Wächst die Schweiz weiter – oder schrumpft sie sogar?

Die Zahlen des Bundesamtes für Statistik nähren Befürchtungen einer Übervölkerung. Wird die Schweiz ohne neue Hindernisse für die Zuwanderung tatsächlich immer weiter wachsen? Es gibt auch gegenteilige Prognosen.


Die westlichen Länder haben sich mit wenigen Ausnahmen mit niedrigen Geburtenraten zumindest der Einheimischen abgefunden und keine Anstrengungen unternommen, Familien mit mehr als zwei Kindern zu unterstützen oder das Kinderhaben durch günstige Betreuungsangebote und finanzielle Entlastung attraktiver zu machen. Mit der Folge, dass heute überall Personalmangel herrscht – auch wenn dieser natürlich von verschiedenen Faktoren beeinflusst ist. Allerdings haben Demografen schon vor 30 Jahren gewarnt, die niedrige Geburtenrate werde unserer Wirtschaft Probleme bereiten.


Ein weltweiter Trend: Bevölkerungsschwund

Heute sehen Demografen wie Hendrik Budliger, Geschäftsleiter des Zentrums für Demografik in Basel, sogar einen weltweiten Trend der Bevölkerungsabnahme, was zum Beispiel durch die jüngsten Zahlen aus China glaubhaft erscheint, wo sie erstmals seit 1961 geschrumpft ist, obwohl die Ein-Kind-Politik aufgegeben worden ist. Auch für die Chinesen erscheint es – wie im Westen – nicht mehr so attraktiv, eine grosse Familie zu haben. In der Schweiz sind es laut Statistik vor allem ausländische Familien, die eine überdurchschnittliche Geburtenrate aufweisen.


Dennoch rechnet das Bundesamt für Statistik laut dem „Referenzszenario“1 mit einer starken Steigerung der Bevölkerungszahl bis 2070. Das gibt den Befürchtungen einer Schweiz mit über 10 Mio. Einwohnern Nahrung und der geplanten Volksinitiative der SVP, welche die Zuwanderung begrenzen will, Auftrieb.


Laut dem Statistikamt steigt die ständige Wohnbevölkerung der Schweiz von derzeit 8,6 Millionen auf 11,1 Millionen im Jahr 2070. Die 10-Millionen-Grenze werde im Jahr 2040 überschritten. In Zukunft steigt der Anteil der Seniorinnen und Senioren an der Gesamtbevölkerung. Heute sind 1,6 Millionen Menschen (18,7%) in der Schweiz 65-jährig oder älter. Diese Zahl steigt bis 2050 auf 2,7 Millionen (25,6%) und beträgt 2070 knapp 3 Millionen (27%). Ohne Zuwanderung und ohne die Erhöhung der Lebenserwartung wäre die Bevölkerung der Schweiz schon seit einigen Jahren rückläufig.2


Unvorhersehbare Entwicklungen

Wie schnell jedoch Bevölkerungsentwicklungs-Prognosen Makulatur sein können, zeigen die Ereignisse, die sich nach der Erstellung dieser Zahlen, die Mitte 2020 publiziert, aber vorher erarbeitet worden sind. Seither haben wie die Corona-Krise und den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine erlebt, was die Wirtschaft und besonders die Energieversorgung massiv beeinträchtigt. Wie wirkt sich das auf Dauer auf die Geburten aus? Während die Covid-Krise vorerst für einen Anstieg der Geburten sorgte, sind sie 2022 nach vorläufigen Zahlen (noch nicht alle Monate sind ausgewertet) bereits wieder gesunken.


Von einem „Pulverfass“ spricht daher der Demograf Hendrik Budliger in einem Artikel in der Sonntags-Zeitung vom 15. Januar. Die Schweiz stehe vor einem Bevölkerungsschwund mit katastrophalen Auswirkungen, so sein dramatischer Warnruf. Zwar sei die Schweiz in den vergangenen Jahren überdurchschnittlich gewachsen, aber damit sei es bald vorbei. Er glaubt nicht, dass die Schweiz je die 10 Mio.-Grenze überschreiten wird. Er weist darauf hin, dass sich die Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung in der Vergangenheit als völlig falsch erweisen haben. Lange wurde das Wachstum stark unterschätzt, heute werde es überschätzt.


„Katastrophale Folgen“

Budliger weist darauf hin, dass die Migration aus Europa zurückgehen werde, weil die Herkunftslänger ihre Landsleute vermehrt selbst brauchen. Gleichzeitig gehen in der Schweiz mehr Personen in Rente als in den Arbeitsmarkt nachrücken. Und die Zuwanderung umfasse heute vor allem den Familiennachzug und die Asylschiene. Der aktuelle Fachkräftemangel werde sich somit noch weiter zuspitzen. Er befürchtet katastrophale Folgen für die Wirtschaft und einen Immobiliencrash. Er rät, das Rentenalter an die Entwicklung der Lebenserwartung anzupassen, attraktive Arbeitsmodelle anzubieten sowie die Digitalisierung und die Automatisierung voranzutreiben. Das aber werde nicht genügen. Durch die Überalterung werde sich die ganze Welt verändern.


Wie soll sich die Schweiz auf diese Entwicklung einstellen? Die Schweizerische Stiftung für die Familie (SSF) weist schon länger darauf hin, dass die Schweiz noch keine wirkliche Familienpolitik kennt, die allen Familien – auch solchen mit drei oder mehr Kindern – eine befriedigende Existenz und beiden Eltern eine gute Altersvorsorge ermöglicht. Die bisherigen Massnahmen, Väter und Mütter für eine möglichst hohe Erwerbsquote zu gewinnen, sind trügerisch. Selbst wenn alle Mütter und Väter zu hundert Prozent erwerbstätig wären, könnte das sich anbahnende Loch in der AHV nicht gänzlich geschlossen werden. Ganz zu schweigen vom „Gender-AHV-Gap“ und weiteren Benachteiligungen für Familien, welche die aktuellen Regelungen mit sich bringen.


Familienergänzende Betreuung am Anschlag

Gleichzeitig gibt es für eine mögliche Vollbeschäftigung von Vätern und Müttern schon jetzt kaum genügend bezahlbare und qualitativ gute familienergänzende Betreuungsangebote. Eine gesetzliche Verordnung wie in Deutschland würde dieses Problem noch verschärfen, denn dort ist der Mangel an Fachkräften in Kitas und Pflegeeinrichtungen inzwischen so gross, dass man von einer qualitativ hochwertigen Betreuung und Pflege immer weiter abrückt. Das Wohl des Kindes leidet massiv darunter, das der Familien und Paare auch.

Es muss deshalb zum Normalfall werden, dass besonders in den erziehungsintensiven Jahren für Mütter und Väter Teilzeitmodelle erarbeitet werden, verbunden mit einer besseren Anerkennung der Care-Work. Hier ist die Politik jetzt gefordert, der wachsenden Diskriminierung von Eltern und Familie entgegenzuwirken.


Wir brauchen familienfreundliche Rahmenbedingungen

Auch wenn es schon spät ist, die Politik braucht einen Weckruf, endlich gute Rahmenbedingungen für alle Familien zu schaffen. Während neue Familienformen die Gesetzgebenden zu Recht fordern, droht gleichzeitig eine permanente Vernachlässigung der 75 Prozent Erstfamilien in der Schweiz. Es braucht also familienfreundliche Rahmenbedingungen für Randgruppen und den Mainstream. So hätte das Land eine Chance, die demografische Abwärtsspirale aufzufangen. Unser Nachbarland Frankreich hat es eigentlich schon lange vorgemacht. Es braucht aber auch einen Abbau von Vorurteilen gegenüber Familien, insbesondere den kinderreichen. Die aktuelle Realität müsste eigentlich dazu beitragen.





Anmerkungen

1) Für die Schätzungen erstellt das BFS drei Grundszenarien. Das «Referenzszenario» schreibt die Trends der letzten Jahre fort. Das zweite Szenario («hoch») basiert auf einer Kombination von Annahmen, die ein stärkeres Bevölkerungswachstum zur Folge hätten. Beim dritten Szenario («tief») ist das Bevölkerungswachstum relativ gering. Je nach Szenario wird die Schweiz 2060 zwischen 9.5 und 11.4 Mio Einwohner zählen.

2) https://dievolkswirtschaft.ch/de/2020/07/wie-stark-waechst-die-bevoelkerung-der-schweiz-bis-2070/

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