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Wie Corona Familien in die Armut treibt

Die Schweizerische Stiftung für die Familie gehört zu den Organisationen, die mit einem Beitrag der Glückskette ausgestattet wurden, um Menschen unbürokratisch zu helfen, die durch die Corona-Pandemie in finanzielle Not geraten sind. Stiftungsmanager Andreas Link berichtet über teilweise erschütternde Erfahrungen.

Normalerweise halten sich die Gesuche um Unterstützung von Familien, die in eine finanzielle Notlage geraten sind, bei unserer Stiftung in Grenzen. Es sind pro Monat drei bis fünf Gesuche, aus denen wir im Team eine Auswahl treffen, mit den Betroffenen sprechen, sie beraten und administrative Aufgaben erledigen.

Unser Engagement beruht dabei auf zwei Säulen: Wir setzen uns einerseits auf dem politischen Parkett für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein, denn die Angst vor Familienarmut hat viel mit mangelndem Verständnis für die Bedürfnisse der Familie in Unternehmen und der Gesellschaft zu tun. Andererseits leisten wir Direkthilfe und unterhalten dazu einen kleinen Hilfsfonds. Mit beiden Tätigkeiten helfen wir auch jungen Paaren, ihren persönlichen Wunsch nach Familie Wirklichkeit werden zu lassen.

Unser Stiftungsrat hat Ende 2019 beschlossen, diesen Hilfsfonds, dank dem positiven Jahresergebnis, aufzustocken. Weise Voraussicht? Denn die Corona-Pandemie liess die Familienarmut massiv ansteigen. Das zeigte sich zum Beispiel beim Andrang bei Nahrungsmittelabgaben und bei Organisationen wie «Tischlein deck dich».

Daher hat sich auch die Schweizerische Stiftung für die Familie (SSF) bei der Glückskette um Gelder beworben. Wir ahnten, dass eine Welle von Hilfsgesuchen nach dem Lockdown auf uns zukommen würde, Die Existenznot legte sich schon bald wie ein grauer Schleier über viele Familien: Job- und Einkommensverlust, Kurzarbeit, in kleinen Wohnungen über Wochen zusammengedrängt. Da lagen viele Nerven blank … und die Zahl der Gesuche an unsere Stiftung hat sich nahezu verzehnfacht!

Ein partnerschaftliches Projekt

Normal ist in vielen Familien seit Corona nichts mehr, besonders bei jenen, die bereits vor der Pandemie mit knappen Mitteln lebten oder in prekären Anstellungsverhältnissen arbeiten. Dank einer Zuwendung der Glückskette konnte unser Sonderfonds «Corona Soforthilfe für Familien in Not» ins Leben gerufen werden. In der Kooperation mit anderen Hilfsorganisationen haben wir dabei erlebt, dass gemeinsam mehr möglich ist und die Hilfe effektiver wird. Eine dieser Organisationen waren die «Missionaries of Charity», ein von Mutter Teresa gegründeter Orden. An ihrem Sitz an der Feldstrasse in Zürich, begegnete ich Inès Garcia[i]. Sie wurde von Corona getroffen wie von einem Tsunami. Inès hatte in der Schweiz das Glück für sich und ihre achtjährige Tochter gesucht – und zunächst auch gefunden. Seit einem Jahr arbeitet sie in einem Reinigungsservice auf Stundenbasis und wohnt bei einer Bekannten. Sie verdiente pro Monat 1´800 bis 2´500 Franken, je nachdem, wie viel Arbeit gerade anfiel. Im Dezember 2019 wagte sie es, ihre Tochter in die Schweiz zu holen, die zuvor bei Ihrer Oma in Spanien lebte. Als aber der Lockdown verhängt wurde, verlor Inès Arbeit und Einkünfte. Zudem war der Aufenthaltsstatus ihrer Tochter noch nicht geklärt. Eine neue Arbeit suchen? Fehlanzeige. Inès musste wegen des Lockdown, der auch die Schulen betraf, erst einmal für Ihre Tochter da sein und sah keine Perspektive, wie sie sich über Wasser halten sollte.

Ich habe in verschiedenen Stiftungen und sozialen Projekten auf mehreren Kontinenten Armut erlebt. Dennoch berührten mich die Schicksale, die ich direkt vor der Haustür erlebte, mehr als die Armut in Indien oder auf den Philippinen. Armut in unserer reichen Schweiz? Wie ist das möglich? – Es ist möglich! Ein ungeschriebenes Sprichwort lautet: «Wenn du in der Schweiz fällst, dann fällst du meist sehr tief.»

Migranten besonders betroffen

Besonders hart hat es diejenigen getroffen, die – häufig mit Migrationshintergrund – dafür sorgen, dass in der Gastronomie und Hotellerie das Leben für uns so angenehm ist und bezahlbar bleibt. Verträge auf Stundenbasis gelten dafür als Rezept. Das hat bislang mehr oder weniger funktioniert. Aber nun lagen zahlreiche Gesuche von Familien auf dem Tisch, die ab sofort keine Arbeit mehr hatten und deshalb finanziell abgestürzt sind. Darunter gibt es auch Haushalte, deren Monatseinkommen von 8´000 Franken auf 5´000 gefallen ist. Das ist für die Betroffenen hart, veranlasst uns aber nicht zum Helfen. Anders war das bei Maria S. Monetär war

ihr Fall nicht so tief, da sie bereits mit einem bescheidenen Einkommen lebte. Hart aufgeschlagen ist sie trotzdem. Maria rief an und erzählte mir am Telefon ihre Geschichte: «Bitte entschuldigen Sie, wenn ich alles durcheinanderbringe, aber ich habe noch nie jemanden um Hilfe gebeten, ich habe es bisher immer alleine geschafft». Ich merkte, dass Maria mit ihren Nerven am Ende war und lud sie in die Geschäftsstelle ein, damit sie in aller Ruhe ihre Geschichte erzählen konnte. Maria kam und erzählte: «Ich habe Arbeit im Hotel. Normalerweise reicht das für mich und meine zwei Töchter … aber jetzt bin ich auf Kurzarbeit und habe nur noch 1´300 Franken pro Monat.» Ihre beiden Töchter sind in etwa so alt wie meine Kinder. Mir ging ein Stich durchs Herz, als ich mir vorstellte, dass diese Teenager doch unbedingt dazu gehören möchten und auch müssen. Teilhabe heisst hier das Stichwort, das Menschen Würde verleiht. War Corona für die beiden Schülerinnen nicht schon schlimm genug, ist die Armut jetzt einfach nur brutal.

Ich fragte Maria, ob vielleicht der Vater der Kinder helfen könnte, wohlwissend, dass ich damit allenfalls in ein Wespennest stossen würde. Maria erzählte nun ihre Geschichte zu Ende. Ihr Mann ist seit vielen Jahren schwer krank. Seit bald zehn Jahren lebt er in einem Pflegeheim. «Bitte helfen Sie mir, ich weiss nicht mehr weiter …». «Hier musst du helfen, Andreas», ruft es in mir, und ich sage Maria noch im Gespräch unsere Hilfe zu, Der Gedanke an die Kinder lässt mich nicht los.

Nach vier Monaten Soforthilfe bin ich ernüchtert, aber auch ein wenig stolz und sehr dankbar, dass wir so oft helfen konnten. Manchmal ist unser Beitrag ein Tropfen auf den heissen Stein, oft auch mehr. Ich erlebte, wie gerade Familien die volle Wucht wirtschaftlicher Not traf. Corona hat viele von ihnen ohne eigenes Verschulden in eine sehr schwierige, oft aussichtslose Lage gebracht. Die Angst vor der Schuldenfalle, vor Betreibungen und vor sozialer Ausgrenzung ist für viele unerträglich.

Ein vorläufiges Fazit

Was muss sich ändern? Wir müssen unsere Hilfe nachhaltiger und noch zielgerichteter einsetzen. Für Familien mit Migrationshintergrund sind zum Beispiel Sprachkurse von existenzieller Bedeutung. Aber auch Budgetberatung ist für junge Familien sehr wichtig. Ich habe viele Einzelgespräche geführt. Einige Geschichten haben mich besonders getroffen. Was mich aber jeweils sprachlos zurückliess, waren Mütter oder Väter, die mir mit ihrem Stapel an Rechnungen gegenübersassen, darunter die Gebühren für die Betreuung der Kinder. Mal 300 Franken, mal 600 Franken. Und das bei einem Einkommen unterhalb des Existenzminimums. Für mich ist das so als ob man einem hungrigen Menschen ein Stück Brot gibt, nur um es ihm gleich wieder wegzunehmen. Hier muss auch der Staat helfen. Die Kinder sind unsere Zukunft. Sie dürfen nicht zur Armutsfalle werden.

Können wir es uns wirklich nicht mehr leisten, einkommensschwachen Familien besser unter die Arme zu greifen?

[i] Alle Namen und Beispiele in diesem Text entsprechen den Tatsachen. Die Namen wurden jedoch zum Schutz der betroffenen Eltern und Kinder anonymisiert. Bild: Corona_Soforthilfe_AdobeStock_314823492_©_fizkes_Titel.jpg

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